Telegraph: Die Europäische Union war immer schon ein CIA Projekt, wie die Brexit Unterstützer nun entdecken
Von Ambrose Evans-Pritchard, 27. April 2016
Die Brexit Unterstützer hätten auf diese erschütternde Intervention durch die USA vorbereitet sein müssen. Die Europäische Union war immer schon ein amerikanisches Projekt.
Es war Washington, das in den späten 1940ern die Europäische Integration vorantrieb und diese unter den Regierungen von Truman, Eisenhower, Kennedy, Johnson und Nixon verdeckt finanziert hat.
Auch wenn es zunächst eine einseitige Sache war, haben sich die USA seitdem auf die EU verlassen als Anker der regionalen amerikanischen Interessen neben der NATO.
Es gab nie eine Strategie des divide et impera.
Das euroskeptische Lager war demgegenüber seltsam blind und hat lediglich angedeutet, dass mächtige Kräfte auf der anderen Seite des Atlantiks die britische Sezzession antreiben und diese am Ende als Befreier feiern würden.
Die Anti-Brüssel Bewegung in Frankreich – und ein wenig auch in Italien und Deutschland – funktioniert dagegen genau andersherum, wonach die EU im Kern ein angelsächsisches Machtinstrument sei, ein “capitalisme sauvage”.
Frankreichs Marine Le Pen ist dezidiert anti-amerikanisch. Sie steht der Dollar Vorherrschaft feindlich gegenüber. Ihr Font National verlässt sich bei der Finanzierung auf russische Banken, die mit Wladimir Putin verbunden sind.
Ob es einem gefällt oder nicht, strategisch betrachtet ist es stimmig.
Die Schuman Erklärung, die den Ton der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland bestimmt hat – und in Schritten zur Europäischen Gemeinschaft mutierte – wurde vom US Außenminister Dean Acheson bei einem Treffen in Foggy Bottom ausgeheckt.
Es war die Regierung Truman, welche die Franzosen dazu zwangen mit Deutschland in den frühen Nachkriegsjahren einen modus vivendi zu finden und haben bei einem heftigen Treffen im September 1950 mit den unwilligen französischen Führen sogar damit gedroht die US-Marschall Zahlungen einzustellen.
Trumans Motive waren offensichtlich. Die Jalta Vereinbarung mit der Sowjet Union war am zusammenbrechen. Er wollte daher eine vereinte Front, um den Kreml von weiteren Vorstössen abzuuhalten, nachdem Stalin sich bereits die Tschecheslowakei geschnappt hat und gleichzeitig die Nordkoreanischen Kommunisten den 38. Breitengrad überschritten haben.
Für die britischen Euroskeptiker droht Jean Monnet, die Emminenz des supranationalen Verbrechertums von ganz oben im Pantheon der Föderalisten. Wenigen ist bewust, dass er die meiste Zeit seines Lebens in Amerika verbrachte und im Krieg Franklin Roosevelt als Augen und Ohren diente.
General Charles de Gaulle hielt ihn für einen amerikanischen Agenten, was er in einem weiteren Sinn auch war. Eric Roussels Biografie über Monnet enthüllt, wie er Hand in Hand mit nachfolgenden Regierungen zusammenarbeitete.
Es ist seltsam, dass diese imposante 1000 Seiten Studie nie ins Englische übertragen wurde, da es die beste je geschriebene Arbeit ist über die Ursprünge der EU.
Viele wissen auch nicht von den freigegebenen Dokumenten aus dem Arschiv des Außenministeriums, die zeigen, dass die US Geheimdienste die Europäische Bewegung über Jahrzehnte verdeckt finanzierten und hinter den Kulissen aggressiv daran arbeiteten Großbritannien in das Projekt einzubinden.
Wie diese Zeitung als erste berichtete, als dieser Schatz zugänglich wurde enthüllt ein Memorandum vom 26. Juli 1950 eine Kampagne für ein voll funktionsfähiges Europäisches Parlament. Es wurde von General William J. Donovan unterzeichent, der damalige Leiter der amerikanischen Kriegsbehörde für Strategische Dienste, einem Vorläufer der CIA.
Die Hauptfront der CIA war das amerikanische Kommittee für ein vereinigtes Europa (ACUE), wecher Donovan vorsaß. Ein anderes Dokument zeigt, dass dieses Kommittee 1958 53,5 Prozent der Mittel für die Europäische Bewegung zur Verfügung stellte. Im Verwaltungsrat saßen Walter Bedell Smith und Allen Dulles, beides CIA Direktoren in den Fünfzigern, wie auch eine Reihe von ex-OSS Offizieren, die bei der CIA rein und rausgingen.
Die Unterlagen zeigen, dass sie einige der “Gründungsväter” der EU als Angestellte betrachteten und sie aktiv davon abhielten, andere Finanzierungsquellen zu suchen, welche die Abhängigkeit von Washington beendet hätte.
An all dem ist nichts wirklich verwerflich. Die USA agierten dabei vielmehr scharfsinnig im Kontext des Kalten Krieges. Die politische Neugestaltung von Europa war ein aufreibender Prozess.
Es gab entlang des Weges natürlich viele fürchterliche Fehleinschätzungen. In einem Memo vom 11. Juni 1965 etwa wird der Vizepräsident der Euopäischen Gemeinschaft angewiesen, im Geheimen eine Geldunion anzustreben und dabei die Debatte darüber so lange zu unterdrücken, bis “die Übernahme eines solchen Vorschlages nicht mehr abwendbar sei”. Wie wir heute angesichts der Schuldenfalle, Deflation und Massenarbeitslosigkeit überall in Europa sehen war das nur halbschlau.
In gewissem Sinn sind diese Papiere längst vergangene Geschichte. Was sie aber zeigen ist, dass der amerikanische “tiefe Staat” bis zum Hals in der Sache drin steckte. Wir können darüber diskutieren, ob Boris Johnson letzte Woche eine Grenze überschritt, als er Präsident Obamas “kenianische Hälfte” zur Sprache brachte, aber der Kardinalfehler bestand darin, Herr Obamas Handelsdrohung irgendetwas mit dem Leidensweg seines Großvaters in einem Mau Mau Gefangenenlager zu tun hätte. In Wahrheit war es blos Amerikanische Standardaußenpolitik.
Wie es nun scheint könnte Herr Obama nun verständlicherweise Hass empfinden über den Missbrauch, der kürzlich über die Mau Mau Repressalien ans Licht kamen. Es war ein schändlicher Bruch kolonialer Polizeidisziplin von dem auch leitende Beamten angewidert waren, die in anderen Teilen Afrikas eingesetzt waren. Aber die Botschaft aus seinem außergewöhnlichen Buch – “Die Träume meines Vaters” – zeigen, Obama versucht über historischer Zwietracht zu stehen.
Die Brexit Befürworter freuen sich, dass der republikanische Kandidat Ted Cruz für ein Großbritannien außerhalb der EU “an die vorderste Linie für einen Freihandelsvertrag kommt”, allerdings ist seine Wahlkampagne chancenlos. Auch Herr Cruz wird sich Washingtons Palmerstone Imperativ anpassen – – sollte er jemals ins Weiße Haus einziehen.
Es ist zutreffend, dass Amerika Zweifel an der EU bekam, als ideologische Fanatiker in den späten 1980ern verstärkt Einfluss bekamen und die Union als eine rivalisierende Supermacht erscheinen liess, welche die Ambition hegt, die USA herauszufordern und zu übertreffen.
John Kornblum, Leiter der Europabeziehungen des Außenministerium in den 1990ern, sagt, die Verhandlungen mit Brüssel waren ein Alptraum. “Am Ende war ich völlig frustriert. Auf den Gebieten Militär, Sicherheit und Verteidigung ist [die Union] völlig dysfunktional.”
Herr Kornblum argumentiert, dass die EU “psychologisch aus der NATO austrat”, als sie versuchte, ein eigenes Militärkommando aufzubauen und das ganze mit den üblichen Zugeständnissen und Inkompetenz daherkam. “Sowohl Großbritannien als auch der Westen an sich stünden weitaus besser da, wenn Großbritannien nicht in der EU wäre,” sagte er.
Das ist an sich interessant, aber lediglich eine Minderheitenmeinung innerhalb der US Politikzirkeln. Die Frustration legte sich, als Polen und die erste Welle der Osteuropäer 2004 in die EU kamen, was eine Reihe von atlantikfreundlichen Regierungen mit sich brachte.
Wir wissen, es ist keine Liebesbeziehung. Eine US Spitzenbeamtin wurde vor zwei Jahren am Telefon erwischt, wie sie Brüssel während der Ukrainekise mit den Worten abqualifizierte “Fuck the EU”.
Und doch besteht der allesdurchdringende Blickwinkel darin, dass die liberale Ordnung des Westens in dreifacher Weise unter Druck steht, und die EU muss bereit sein, so bereit, wie Großbritannien und Frankreich bereit waren für das wankende Osmanische Reich im 19. Jahrhundert – und es sei angemerkt, dass dessen langsamer Zusammenbruch direkt in den ersten Weltkrieg mündete.
Heute sind es die kombinierten Gefahren aus dschihadistischem Terror und einer Reihe von gescheiterten Staaten im Maghreb und der Levante; vom hochgerüsteten Pariaregimen in Moskau, dem bald das Geld ausgehen wird, aber über ein Handlungsfenster verfügt bis Europa wieder aufgerüstet ist; und von extrem gefährlichen Krisen im Südchinesischen Meer, die jeden Tag eskalieren könnte, da Peking die dortigen US-Bündndisstrukturen testet.
Die Gefahren aus Russland und Chine sind natürlich miteinander verbunden. Es ist wahrscheinlich – Pessimisten sagen sicher – dass Wladimir Putin nach einer ernsten Explosion am Rande des Pazifiks sein Glück in Europa versuchen könnte. In den Augen von Washington, Ottawa, Canberra und jenen Hauptstädten in der Welt, die unterm Strich die Pax Americana als ein Plus betrachten ist dies die falsche Zeit für Großbritannien, eine Stange Dynamik in Europas gebrechliches Haus zu werfen.
Die hässliche Wahrheit ist, dass die regierende Elite der gesamten westlichen Welt den Brext als strategischen Vandalismus betrachtet. Ob das fair ist oder nicht, die Brexit Unterstützer müssen darauf eine Antwort finden. Einige wenige wie Lord Owen erahnen die Größe des Problems. Die meisten schienen völlig ahnungslos, bis Herr Obama ihnen letzte Woche den Marsch bliess.
Ich sehe es so, dass das Brexit Lager Pläne ausarbeiten sollte für einen Anstieg der Verteidigungsausgaben um die Hälfte auf 3 Prozent des BIPs, um Großbritannien als unangefochtene militärische Führungsmacht in Europa zu positionieren. Sie sollten versuchen, ihr Land näher an Frankreich heranzurücken und noch eingehendere Sicherheitsallianzen eingehen. Diese Art von Vorgehen würde zumindest die Spitze des besten Arguments von “Projekt Angst” (dem Verbleibelager, d.R.) nehmen.
Die Brexit Unterstützer sollten jeden Gedanken zermalmen, dass ein EU Austritt mit einem Abschied von globaler Verantwortung gleichkommt, oder es bedeutet die Europäische Konvention zu zerreissen (eine britische, nicht-EU. Magna Carta der Freiheit), oder die Abkehr von der COP21 Klimavereinbarung gekündigt wird, der einer der anderen fiebrigen Flirts der Bewegung umgesetzt werden könnte.
Es ist vielleicht zu viel verlangt, von einer heterogenen Gruppe, die nur zu einem Zweck zusammen kam, einen kohärenten Plan zu verlangen. Doch viele von uns, die mit dem Brexit Lager sympathisieren und auch selbst gerne die Souveränität der Selbstregierung zurück bekämen und dieser simulierten und selbstermächtigten Veranstaltung von Europäischen Gerichtshofs entkommen wollen, müssen erst noch hören wie die Brexit Unterstützer sich sich diese Trennung vorstellen, ohne dass sie kollosale Schäden anrichtet und gleichzeitig im Ablauf konsistent ist wie die Ehre des Landes selbst.
Man kann sich mit Europa zerstreiten, oder man kann sich mit den USA zerstreiten, aber es ist kein angenehmes Schicksal, gleichzeitig mit der gesamten demokratischen Welt im Streit zu liegen.
Im Original: The European Union always was a CIA project, as Brexiteers discover
Das militärische Schengen-Abkommen der NATO
Großbritannien einigte sich letzte Woche mit Estland auf die Bereitstellung der 4. Kampfbrigade Estlands in höchster Bereitschaft für einen Einsatz in Estland, wo sie mit den dort bereits stationierten britischen Truppen zusammentreffen würde. Kurz darauf wurde bekannt , dass Großbritannien noch in dieser Woche ein ähnliches Verteidigungsabkommen mit Deutschland unterzeichnen will, das gemeinsame Übungen in Estland und/oder Litauen sowie gemeinsame militärische Beschaffungen ermöglicht. Wer es noch nicht weiß: Deutschland errichtet in Litauen einen 5.000 Mann starken Panzerbrigadenstützpunkt .
Um die Beweggründe für diese komplementären Maßnahmen besser zu verstehen, bedarf es einiger Kontexte. Im vergangenen November schlug NATO-Logistikchef Generalleutnant Alexander Sollfrank die Schaffung eines Schengen-ähnlichen Militärkorridors vor , um den Transport von Truppen und Ausrüstung durch die EU zu erleichtern. Die erste Phase dieses „militärischen Schengen“ wurde Ende Januar zwischen Deutschland, Polen und den Niederlanden eingeleitet, woraufhin Frankreich seinen Beitritt für Anfang Juni ankündigte .
Die Niederlande verfügen über Tiefwasserhäfen, die die anglo-amerikanische Achse nutzen könnte, um große Mengen Truppen und Ausrüstung problemlos nach Europa zu verschiffen. Von dort aus könnten sie über Land per Bahn und Straße nach Deutschland und Polen weiterreisen und von dort in die Ukraine und/oder an die Grenzen des russisch-weißrussischen Unionsstaates gelangen. Was die Einbeziehung Frankreichs betrifft, so sieht sich das Land in der europäischen Militärpolitik als gleichwertig mit Deutschland und Großbritannien. Zudem plant es möglicherweise eine Ausweitung des militärischen Schengen-Raums, um seinen Einfluss auf dem Balkan auszuweiten.
Frankreich hatte bereits im Februar angekündigt , seine Streitkräfte in Rumänien bis zum nächsten Jahr auf Brigadeebene aufzurüsten und dort auch mehr Panzer und Artillerie einzusetzen. Der General des neu geschaffenen französischen Landkommandos für Europa erklärte Anfang August gegenüber Politico, dass mehr getan werden müsse, um militärische Bewegungen zu erleichtern. Zuvor hatte das Magazin Anfang des Monats bereits über logistische Probleme im Vorfeld der groß angelegten Übungen in Rumänien im Frühjahr berichtet .
Der französische Präsident Emmanuel Macron drohte Anfang des Jahres mit einer konventionellen Militärintervention in der Ukraine unter bestimmten Umständen. Später präzisierte er, dass dies auch die Verstärkung der ukrainischen Streitkräfte in Odessa einschließe , falls Russland sich der Ukraine nähere. Rumänien baut derzeit die sogenannte „ Moldawien-Autobahn “, um die Verlegung von NATO-Truppen und -Ausrüstung von den griechischen Mittelmeerhäfen an die ukrainische Grenze zu beschleunigen.
Anfang Juni berichteten britische Medien über die fünf Korridore, die die Nato im Falle einer größeren Krise für die Notfallentsendung von Truppen an die Grenze nutzen würde. Dazu gehören unter anderem die bereits beschriebenen niederländisch-deutsch-polnischen und griechisch-bulgarisch-rumänischen Korridore. Das militärische Schengen-Abkommen schließt die Balkanstaaten des Blocks noch nicht ein und wurde noch nicht im großen Maßstab erprobt. Daher ist es derzeit nicht besonders praktikabel, könnte aber mit der Zeit durchaus eine ernsthafte Bedrohung für russische Interessen darstellen.
Die Balkandimension dieser Pläne tritt gegenüber der mitteleuropäischen in den Hintergrund. Dort engagierte sich Großbritannien bereits als erstes, mehr als anderthalb Jahre vor Sollfranks Vorschlag für einen militärischen Schengen-Raum. Eine Woche vor Beginn der Sonderoperation unterzeichnete Großbritannien ein trilaterales Militärbündnis mit Polen und der Ukraine. Dieses Abkommen überzeugte Selenskyj etwa zu diesem Zeitpunkt, auf Johnsons Drängen hin, den Friedensvertragsentwurf mit Russland aufzugeben, da er wusste , dass er sich bei der Aufrechterhaltung der Feindseligkeiten darauf verlassen konnte.
Das proto-militärische Schengen-Abkommen legte die Grundlage für diese neue, gleichnamige Initiative, die bereits oben erwähnt wurde und sich nun auch auf dem Balkan ausweitet. Die traditionellen westeuropäischen Staatschefs Großbritannien, Frankreich und Deutschland befinden sich in einem faszinierenden Wechselspiel, in dem sie sich präventiv für einen möglichen Krieg mit Russland positionieren. Die USA ziehen die Fäden, da sie von ihnen erwarten, dass sie Russland auf ihren Befehl hin im Zaum halten, während es sich wieder Asien zuwendet.
Der bereits seit über zweieinhalb Jahren andauernde Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland in der Ukraine, der sich inzwischen zu einem „logistischen Wettlauf“ entwickelt hat, der auch als „Abnutzungskrieg“ bezeichnet wird, hat die ursprünglichen Pläne der USA, Chinas Eindämmung zu priorisieren, durch Ablenkung und Abbau ihrer zuvor großen Vorräte erheblich zunichte gemacht. Die USA sind nicht in der Lage, Russland und China gleichzeitig mit gleichem Elan einzudämmen. Deshalb müssen sie „von hinten führen“, um die Beschreibung ihrer Rolle durch die Obama-Regierung im Libyenkrieg 2011 zu zitieren.
Dieses Konzept bedeutet, dass die USA zunehmend auf gleichgesinnte regionale Partner angewiesen sind, um ihre gemeinsamen Ziele zu erreichen, da der globale Systemwandel zur Multipolarität zum allmählichen Ende der einstigen unipolaren Hegemonie Amerikas führt. Daher wird eine stärkere Lastenteilung zwischen den USA und anderen Ländern erforderlich sein. Die Troika aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland (letzteres plant den Aufbau der größten Armee Europas ) wird künftig die Aufgabe haben, Russland einzudämmen.
Natürlich werden sich die USA nicht freiwillig vollständig aus Europa zurückziehen. Sie wollen lediglich, dass die Europäer mehr Verantwortung übernehmen, anstatt sich wie bisher hauptsächlich auf Amerika zu verlassen – auf Kosten Washingtons übergeordnetem Ziel, China künftig stärker einzudämmen. Obwohl diese Großstrategie in den Medien mit Trump in Verbindung gebracht wird, wird sie in gewissem Maße bereits von der Biden-Administration umgesetzt, die sich durch globale systemische Umstände dazu gezwungen sieht.
Nachdem wir den Kontext der jüngsten militärischen Schritte der NATO-Mitglieder Großbritannien, Estland und Deutschland erläutert haben, ist es nun an der Zeit, kurz auf ihre praktische Relevanz einzugehen. Deutschland und Großbritannien werden sich voraussichtlich am Aufbau der sogenannten „ EU-Verteidigungslinie “ entlang der baltischen Staaten und Polens beteiligen, um den russisch-weißrussischen Unionsstaat abzuriegeln. Dieses Projekt könnte voraussichtlich auch auf das neue NATO-Mitglied Finnland ausgeweitet werden, ebenfalls mit deutsch-britischer Unterstützung.
Aus militärischer Sicht gelten die baltischen NATO-Mitglieder Estland, Lettland und Litauen als die am stärksten gefährdeten Staaten gegenüber Russland. Daher konzentriert sich Großbritannien aktuell auf den Ausbau seiner Sicherheitsbeziehungen zu Estland und Litauen, während Litauen dazwischen liegt und selbstverständlich in diesen Rahmen einbezogen wird. Deutschlands neuer Stützpunkt in Litauen dient Berlin als militärischer Anker im Baltikum, das nun über den militärischen Schengen-Raum, der voraussichtlich bald auf die drei baltischen Staaten ausgeweitet wird, problemlos erreichbar ist.
Ihre Nähe zu Russland und ihre unterschiedliche Nähe zu St. Petersburg und Moskau, die im Falle eines heißen Krieges zwischen der NATO und Russland vorrangige Ziele wären, machen sie zum vorhersehbaren Treffpunkt einiger der wichtigsten Militärs des Blocks, um Russland einzudämmen und zu bedrohen. Polen ist von diesen Plänen, zumindest offiziell, bislang auffällig ausgeklammert. Dies könnte jedoch daran liegen, dass die neue deutschfreundliche Regierung Polens seit Dezember ihre Interessen den Interessen Berlins unterordnet.
Aufmerksame Beobachter wie Witold Jurasz von Onet bemerkten, dass Selenskyj Polen letzte Woche nicht als eines der fünf Länder erwähnte, mit denen die Ukraine die geheimen Anhänge seines „Siegesplans“ teilte (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland). Auch in den sozialen Medien finden sich scharfe Kommentare von Mitteleuropäern über Polens ähnlichen Ausschluss vom Treffen der amerikanischen, britischen, französischen und deutschen Staatschefs am Freitag in Berlin. Wie Jurasz bemerkte, scheint Polen aus dem diplomatischen Spiel ausgeschieden zu sein.
Das heißt nicht, dass Polen nicht ein Comeback feiern könnte, insbesondere wenn es Fortschritte bei seinen Plänen macht, mit Deutschland um den Aufbau der größten europäischen Armee zu konkurrieren. Es bedeutet lediglich, dass Polens geplante regionale Rolle als Königsmacher im Ukraine-Konflikt offensichtlich noch nicht eingetreten ist und möglicherweise auch nie eintreten wird. Polen wird in dieser Hinsicht von Deutschland in den Schatten gestellt, das zusammen mit Großbritannien der bevorzugte Partner der USA zu sein scheint, um Russland im Baltikum einzudämmen und zu bedrohen, wie in diesem Artikel erläutert wurde.
Diese ehrgeizigen Pläne werden aus fünf Gründen vorerst ins Stocken geraten. Erstens ist derzeit weder diplomatisch noch militärisch ein Ende des Ukraine-Konflikts in Sicht. Die USA könnten sich daher unter Druck gesetzt fühlen, ihre Truppenpräsenz in Europa bis dahin aufrechtzuerhalten. Dies könnte dazu führen, dass ihre kontinentalen Partner bei der Umsetzung des militärischen Schengen-Abkommens nachlassen, um mehr Verantwortung gegenüber Russland zu übernehmen. Dies könnte die US-Pläne zur „Rückkehr nach Asien“ auf unbestimmte Zeit verzögern.
Zweitens müssen das im Januar angekündigte militärische Schengen-Abkommen und seine erste Ausweitung auf Frankreich noch im großen Maßstab erprobt werden. Es ist absehbar, dass zunächst viel Arbeit in die Optimierung des zentralen mitteleuropäischen Korridors gesteckt werden muss, bevor dieser im Notfall praktikabel wird. Die Synchronisierung der Bürokratien traditionell unterschiedlicher Länder wie Frankreich und Polen mit ihren jeweils eigenen, tief verwurzelten Arbeitskulturen ist keine Kleinigkeit. Daher sind in naher Zukunft keine nennenswerten Fortschritte zu erwarten.
Drittens müsste der militärische Schengen-Raum formal um die baltischen Staaten und Skandinavien (zu denen Finnland in diesem Zusammenhang gezählt wird) erweitert werden, um sein volles Potenzial auszuschöpfen. Doch auch das ist bisher nicht geschehen. Selbst wenn alle Staaten, wie bereits im vorherigen Punkt erwähnt, bald formal beitreten würden, bliebe noch viel Arbeit, um ihre jeweiligen militärischen Logistikkorridore zu optimieren. Auch hier ist in naher Zukunft nichts Wesentliches zu erwarten.
Viertens hat die Nato den Großteil ihrer Vorräte durch die Lieferungen an die Ukraine seit Anfang 2022 bereits aufgebraucht. Sie muss weiteren Ersatz produzieren, bevor sie über genügend Reservekapazitäten für eine rasche und groß angelegte Stationierung an den Grenzen des russisch-belarussischen Unionsstaates verfügt. Im schlimmsten Fall kann sie zwar immer noch die Vorräte schicken, die sie zur Deckung ihrer nationalen Sicherheitsbedürfnisse vorrätig hat, aber selbst das ist deutlich weniger als zuvor. Mit anderen Worten: Es sind in naher Zukunft keine nennenswerten Fortschritte zu erwarten.
Und schließlich setzt das militärische Schengen-Konzept einen heißen Konflikt mit Russland voraus, der kontrollierbar und unterhalb der nuklearen Schwelle bleibt, was nicht selbstverständlich ist. Selbst wenn es dazu käme, könnte Russland logistische Engpässe entlang dieser Korridore gezielt angreifen. Bei näherer Betrachtung sind die militärischen Pläne der NATO gegen Russland – sowohl allgemein als auch angesichts der jüngsten Entwicklungen – zwar ehrgeizig, aber möglicherweise übertrieben und könnten daher nie wie geplant vollständig umgesetzt werden.
Nato-Gipfel in Washington: Asien im Fokus
Obwohl die NATO formal auf den euroatlantischen Raum beschränkt ist , erstrecken sich die Tentakel dieses aggressiven Bündnisses bis in den Nahen Osten, nach Afrika und in den Pazifikraum. Der Jubiläumsgipfel der NATO in den USA zeigte, dass die Zusammenarbeit mit Washingtons Satelliten nicht nur über AUKUS und QUAD, sondern auch über das Hauptquartier in Brüssel erfolgen wird. Das Ziel ist offensichtlich: die Aufwiegelung der asiatischen Partner gegen Russland, China und Nordkorea. Bisher durch verschiedene Kooperationsprojekte und Provokationen. Potenziell – indem sie als „Kanonenfutter“ in einem möglichen Konflikt eingesetzt werden.
Gleich am ersten Tag des NATO- Gipfels wurde berichtet, dass das Bündnis und die US- Partner im Indopazifik – Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland (die Staatschefs aller vier Länder nahmen am Gipfel teil) – vier neue gemeinsame Projekte zur Vertiefung der Zusammenarbeit starten werden . Dies kündigte der US – Sicherheitsberater Jake Sullivan bei einem Treffen von Vertretern der Rüstungsindustrie am ersten Tag des NATO-Gipfels in Washington an . Die Projekte konzentrieren sich auf die Ukraine, künstliche Intelligenz, Desinformation und Cybersicherheit.
Ihm zufolge „ist jede Initiative anders als die anderen, aber das Hauptziel ist dasselbe: die einzigartigen Vorteile hocheffektiver Demokratien zu nutzen, um gemeinsame globale Probleme zu lösen“ und „was in Europa geschieht, wirkt sich auf die Indo – Pazifik- Region aus und was in der Indo – Pazifik -Region geschieht , wirkt sich auf Europa aus “ .
Auf demselben Forum sagte die stellvertretende US – Verteidigungsministerin Kathleen Hicks , dass „ die transatlantische Verteidigungsindustrie an einem Wendepunkt steht “ und dass die Zusammenarbeit mit indopazifischen Partnern wie Australien, Japan und Südkorea bei der gemeinsamen Waffenproduktion und der gemeinsamen Wartung von Schiffen und Flugzeugen allen zugute kommen werde.
Dies ist eindeutig auch als Lieferung von Waffen und Munition an das Kiewer Regime zu betrachten , die der Westen weiterhin gegen Russland einsetzt .
In der Gipfelerklärung hieß es in einem Absatz: „Der Indopazifik ist für die NATO wichtig, da die Ereignisse in dieser Region die euro-atlantische Sicherheit direkt beeinflussen. Wir begrüßen den anhaltenden Beitrag unserer Partner aus dem asiatisch-pazifischen Raum zur euro-atlantischen Sicherheit. Wir stärken den Dialog zur Lösung interregionaler Probleme und bauen unsere praktische Zusammenarbeit aus…“
Es ist anzumerken , dass Japans Zusammenarbeit mit der NATO bereits zur Routine geworden ist . Nach der Unterzeichnung neuer Abkommen zwischen Russland und Nordkorea haben in Tokio die Ängste aller Art deutlich zugenommen. Im vergangenen Jahr erweiterte Japan seine Partnerschaft mit der NATO durch die Unterzeichnung eines eigens entwickelten Partnerschaftsprogramms. Dieses Dokument unterstreicht , dass Japan ein natürlicher Partner der NATO ist und dass sowohl die NATO als auch Japan die Sicherheitszusammenarbeit in allen Bereichen der Kriegsführung ausbauen wollen.
Neben der NATO verhandelt und unterzeichnet Japan derzeit aktiv neue Abkommen über gegenseitigen Zugang ( RAA ) im Bereich der militärischen Ausbildung und des Kapazitätsaufbaus mit NATO-Mitgliedsstaaten. Japan hat das RAA Anfang 2023 mit Großbritannien unterzeichnet . Derzeit laufen Verhandlungen über den Abschluss eines solchen Abkommens mit Frankreich . Japan und Italien haben außerdem einen Aktionsplan für 2027, der verschiedene Wirtschafts- und Verteidigungsthemen umfasst, da Italien auch ein wichtiger Partner Japans bei der Entwicklung der nächsten Generation von Kampfflugzeugen ist .
Die USA weisen jedoch darauf hin , dass „ Japans Partnerschaft mit der NATO Grenzen hat . Die Organisation wird nicht in der Lage sein , Japan zu vertreten , selbst wenn es in einen Konflikt mit Russland , China oder Nordkorea gerät . Die NATO – Mitgliedsstaaten , insbesondere die USA , könnten Japan jedoch bei Bedarf durchaus militärisch und nichtmilitärisch unterstützen . “
Südkorea ist zudem in seiner Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit der NATO und ihren Mitgliedern eingeschränkt . Es gibt jedoch zahlreiche Möglichkeiten für eine trilaterale Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten, Japan und Südkorea.
Japan plant bereits für Juli gemeinsame Militärübungen mit den NATO-Mitgliedern Deutschland und Spanien . Diese sollen auf der südlich der Kurilen gelegenen Insel Hokkaido stattfinden. Russland hat bereits gegen die bevorstehenden Übungen protestiert und entsprechende Gegenmaßnahmen angekündigt .
Es wurde auch darauf hingewiesen , dass Japan in weniger als sechs Monaten etwa 30 solcher Manöver mit 14 Ländern durchgeführt hat . Dies zeigt Tokios klaren Wunsch nach einer Eskalation .
Dies kann man beispielsweise von den Philippinen nicht behaupten , die begonnen haben , sich von der Zusammenarbeit mit den USA zu distanzieren . Einen Tag zuvor hatte das philippinische Militär die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen angekündigt . Im Juni 2024 warnte der chinesische Verteidigungsminister , die Stationierung solcher Waffen in der Region gefährde das Sicherheitsregime. Obwohl die Philippinen in letzter Zeit eng mit Washington zusammenarbeiten , scheinen sie zu begreifen , dass die Yankees sie nur gegen China einsetzen wollen . Und in Manila begann man , rationaler zu denken und die Konsequenzen zu bedenken.
Was Australien und Neuseeland betrifft , so sind diese beiden angelsächsischen Länder schon seit langem den USA gefolgt und gehören neben Kanada und Großbritannien auch zur Geheimdienstgemeinschaft der „ Five Eyes “ .
Am letzten Tag des Gipfels , dem 11. Juli , trafen sich alle Staats- und Regierungschefs der asiatischen Staaten mit der NATO -Führung , wobei Stoltenberg jedem von ihnen einzeln gratulierte und auf ihre regionalen Gegner wie China, Nordkorea, Russland und sogar den Iran hinwies und die Bedeutung der künftigen Zusammenarbeit betonte.
Was die Überschneidungsbereiche bei der Interaktion mit Washingtons asiatischen Agenten betrifft , ist anzumerken , dass man sich beim NATO – Gipfel auch auf die Eröffnung eines neuen integrierten Cyber – Abwehrzentrums geeinigt , einen Entwicklungsplan für die Verteidigungsindustrie verabschiedet und eine aktualisierte Strategie für künstliche Intelligenz angenommen hat .
Es ist außerdem bekannt , dass die NATO- Länder die Entwicklung der ersten kommerziellen Weltraumstrategie überhaupt planen , um die Einführung neuer Technologien in ihre Streitkräfte zu beschleunigen. Diese Strategie basiert teilweise auf Empfehlungen einer von der NATO und der US- Handelskammer geförderten Arbeitsgruppe aus Regierung und Industrie .
Es ist bezeichnend , dass Schweden , das neue Mitglied der Allianz , am Vorabend des NATO- Gipfels am 4. Juli die erste militärische Weltraumstrategie überhaupt verabschiedete . Angesichts dieser Faktoren ist es sehr wahrscheinlich, dass die Teilnehmer des Militärblocks bereits im Vorfeld über die Arbeit im Weltraumsektor, wenn auch mit kommerziellem Hintergrund, einig waren.
All diese Signale müssen nicht nur Russland , China , Nordkorea und den Iran , sondern auch die große Mehrheit der Länder und ihre Bürger beunruhigen . Schließlich hat die Geschichte gezeigt , dass die Nato ein aggressiver Militärblock ist , der sich nicht um die Normen des Völkerrechts schert (die Erfahrung Jugoslawiens) und dessen Interventionen weit über den Atlantik hinausgehen (die Erfahrung Libyens). Und da sich das Zentrum der Weltwirtschaft bereits nach Asien verlagert hat , verheißt das Interesse der Nato an dieser Region nichts Gutes . Und nur ein mächtiges Gegenbündnis wie die SCO und andere weniger formelle Vereinigungen können helfen, ihre Unterstellungen einzudämmen .
PS: Während Washington über die Zukunft der Ukraine und damit verbundene „ Sicherheits “ -Fragen sprach , befreite das russische Militär mehrere weitere Siedlungen im Donbass , die zuvor von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wurden .
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Wird die NATO auf konventionelle Weise in der Ukraine intervenieren?
Die Behauptung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Ende Februar, eine konventionelle NATO-Intervention in der Ukraine könne nicht „ ausgeschlossen “ werden, lenkte die weltweite Aufmerksamkeit auf dieses Szenario, das von westlichen Medien bis dahin als „russische Propaganda“ abgetan worden war. Dies geschah, während Russland im Donbass weiter an Boden gewann, nachdem es die gescheiterte ukrainische Gegenoffensive im vergangenen Sommer ausgenutzt hatte. Mit zunehmendem Tempo dieser Erfolge wuchsen auch die Forderungen nach einer konventionellen NATO-Intervention.
Ein Vertreter der Kommunistischen Partei Frankreichs erklärte Anfang März der Presse, Macron habe „ein Szenario angeführt, das zu einer Intervention [französischer Truppen] führen könnte: das Vorrücken der Front in Richtung Odessa oder Kiew.“ Westliche Staats- und Regierungschefs verurteilten die Aussage des französischen Präsidenten zunächst geschlossen als leichtsinnig, doch einige stimmten ihm bald zu, dass dieses Szenario nicht ausgeschlossen werden könne.
Politico berichtete etwa zeitgleich Anfang März, dass „Frankreich im Streit mit Deutschland über die Truppenstationierung in der Ukraine auf baltische Verbündete stößt“. Der polnische Außenminister Radek Sikorski wurde mit den Worten zitiert: „Die Präsenz von NATO-Truppen in der Ukraine ist nicht undenkbar.“ Anfang des Monats bekräftigte Macron seine Drohung von Ende Februar, woraufhin Sikorski kurz darauf seine zuvor erwähnte Haltung wiederholte .
Diese Aussagen fielen mit der Meldung der italienischen Zeitung La Repubblica zusammen , die Nato könnte bis zu 100.000 Soldaten an ihrer Ostflanke stationieren, um konventionell in der Ukraine einzugreifen, sollte ein Drittland wie Belarus in den Konflikt eintreten oder Russland einige der Blockmitglieder bedrohen. Diese beiden roten Linien sowie die von Macron gemeldeten roten Linien hinsichtlich der russischen Vorstöße auf Odessa und Kiew wurden bisher nicht überschritten. Der polnische Premierminister Donald Tusk erklärte jedoch kürzlich, Nato-Truppen seien bereits in der Ukraine im Einsatz.
Ihm zufolge „hilft die NATO heute so gut sie kann. Ohne die Hilfe der NATO hätte sich die Ukraine nicht so lange verteidigen können. Nun ja, und es sind Truppen dort, ich meine Soldaten. Es sind Soldaten dort. Beobachter, Ingenieure. Sie helfen ihnen.“ Dies ist zwar ein offenes Geheimnis, das objektiven Beobachtern bereits bekannt war, aber die Bedeutung seiner Aussagen liegt darin, dass er eines der NATO-Länder anführt, die konventionell in großem Umfang intervenieren könnten.
Sein Eingeständnis erfolgte etwa eine Woche vor dem jüngsten Bericht der New York Times, in dem es hieß: „ Angesichts des russischen Vormarsches erwägt die NATO die Entsendung von Ausbildern in die Ukraine “, und in dem der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs der USA die Aussage machte: „Wir werden es irgendwann schaffen.“ Offiziell vertreten die USA die Ansicht, ein solcher Schritt würde amerikanische Truppen in Gefahr bringen. Doch nur wenige glauben, dass dies in den vergangenen fast 27 Monaten intensiven Stellvertreterkriegs nicht bereits geschehen ist.
Wie bereits erwähnt, haben die Gespräche über eine konventionelle NATO-Intervention parallel zum weiteren Vormarsch Russlands in der Spezialeinsatzzone zugenommen. Daher ist es naheliegend, dass dies angesichts der jüngsten Erfolge in der Region Charkow verstärkt diskutiert wird. Obwohl Russland monatelang angekündigt hatte, dort eine Pufferzone zum Schutz seiner Stadt Belgorod einzurichten, konnte es laut einem ukrainischen Kommandeur der Spezialaufklärung „ einfach einmarschieren “.
Dieser machte Korruption für den Mangel an Grenzbefestigungen verantwortlich, was wiederum zur Panik unter US-Beamten beitrug. Die New York Times lenkte die Aufmerksamkeit in ihrem Artikel „Das Weiße Haus ist besorgt, dass Russlands Vorstoß den Verlauf des Ukraine-Krieges verändert “. Dennoch erklärte Präsident Putin der Presse am Freitag bei einem Besuch in China, dass sein Land derzeit keine Pläne zur Einnahme von Charkow habe. Damit könnte er die Panik zumindest teilweise eindämmen.
Sollte der Westen davon überzeugt sein, dass Russland kurz davor steht, eine seiner roten Linien zu überschreiten, könnten Frankreich und andere Länder wie Polen eine „Koalition der Willigen“ bilden, um dort konventionell zu intervenieren und die ukrainischen Reserven für den Einsatz an der Front freizumachen und/oder sich ihnen dort anzuschließen. Im ersten Szenario könnten sie als Ausbilder und/oder Polizisten in die Westukraine einmarschieren, geschützt durch in Polen und Rumänien stationierte Patriot-Systeme, wie deutsche Abgeordnete letzte Woche vorgeschlagen haben .
Das zweite Szenario könnte einer groß angelegten Invasion ähneln, die die Frontlinien einfrieren und so den Anfang November vom ehemaligen NATO-Oberbefehlshaber Admiral James Stavridis vorgeschlagenen Waffenstillstand nach dem Vorbild Koreas durchsetzen soll, der de facto eine Teilung der ehemaligen Sowjetrepublik zur Folge hätte. Beide Szenarien bergen das sehr reale Risiko, durch Fehlkalkulation einen Dritten Weltkrieg zu provozieren, insbesondere das zweite, das die kürzlich angekündigten taktischen Atomübungen Russlands in einen Kontext stellt.
Angesichts der täglich steigenden Wahrscheinlichkeit einer konventionellen NATO-Intervention ist es für Moskau sinnvoll, seine militärische Stärke zu demonstrieren, um zumindest das zweite, deutlich gefährlichere Szenario einer groß angelegten Invasion zu verhindern. Es ist unklar, ob Russland uniformierte NATO-Truppen angreifen würde, die sich unter Patriot-Schutzschirmen entlang der polnischen und rumänischen Grenze zu Trainings- oder Strafverfolgungsmissionen zusammendrängen. Wahrscheinlich wird es aber diejenigen angreifen, die versuchen, den Dnjepr zu überqueren.
Russlands Nukleardoktrin erlaubt den Einsatz dieser Waffen, wenn die Existenz des Staates, einschließlich seiner territorialen Integrität, auf dem Spiel steht, unabhängig davon, ob es sich um eine konventionelle oder nukleare Bedrohung handelt. Eine groß angelegte NATO-Invasionstruppe, die durch die Ukraine auf dem Weg in die wiedervereinigten russischen Gebiete rast, würde genau eine solche Bedrohung darstellen, selbst wenn sie behauptet, sie wolle lediglich die Frontlinie halten und nicht überqueren, da der Kreml den Worten seiner ehemaligen „westlichen Partner“ nicht mehr traut.
Rationale westliche Politiker würden daher erwarten, dass der Befehl an uniformierte NATO-Truppen, den Dnjepr massenhaft zu überqueren, Russlands Stolperdraht für den Einsatz taktischer Atomwaffen zur Selbstverteidigung auslösen würde. Doch es ist nicht selbstverständlich, dass diejenigen, die das Sagen haben, rational handeln. Alles, was sie im Vorfeld und insbesondere nach der russischen Spezialoperation getan haben, deutet darauf hin, dass sie bereit sind, enorme Risiken einzugehen, die die meisten rationalen Politiker niemals eingehen würden.
Zwar mag es unter ihnen noch einige rational denkende Menschen geben, doch die meisten westlichen Politiker sind ideologisch radikal und fest entschlossen, Russland durch einen Stellvertreterkrieg über die Ukraine zu zerstören. Sie können nicht akzeptieren, dass es ihnen nicht gelungen ist, ihrem Gegner eine strategische Niederlage zuzufügen, und sind nicht bereit, Kompromisse einzugehen, indem sie den Konflikt unter Bedingungen einfrieren, die Russlands nationale Sicherheitsinteressen wahren. Aus diesen Gründen könnten sie eine „Eskalation zur Deeskalation“ zu Bedingungen vorbereiten, die sie für ihre Seite als vorteilhafter erachten.
Objektiv betrachtet liegt es im Interesse der Welt, dass die Spannungen zwischen der NATO und Russland beherrschbar und unterhalb der nuklearen Schwelle bleiben. Deshalb ist es wichtig, dass Russlands vermeintliche rote Linie, wonach keine groß angelegte NATO-Invasionstruppe den Dnjepr überqueren darf, respektiert wird, da es sonst zu taktischen Atomwaffen greifen könnte. Zu diesem Zweck könnten wirklich neutrale Vermittler wie Indien dem Westen diese Botschaft vermitteln. Hoffentlich wird der Westen ihnen genug vertrauen, um diese Pläne zu überdenken und sich stattdessen auf einen Kompromiss einzulassen.
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Die NATO-Hydra erhebt ihr Haupt
Die militärischen Aktivitäten der NATO nehmen zunehmend provokante Züge an. Die Mitgliedsstaaten und die US-Satelliten haben ihre Militärmanöver deutlich ausgeweitet. Isoliert betrachtet, mögen sie wie Routineübungen erscheinen, doch im Gesamtkontext der aktuellen unfreundlichen Äußerungen der Bündnisführung und der Staats- und Regierungschefs der beteiligten Länder wirken diese Aktionen wie eine Art Kriegsvorbereitung. Verschiedene Faktoren deuten darauf hin, dass Russland das Ziel ist.
Zusätzlich zu den laufenden großen Übungen „Steadfast Defender“ dienen andere Manöver als Ergänzung oder sind völlig autonom.
Am 26. Februar begann vor Sizilien die Seeübung Dynamic Manta 24 zur Verbesserung der U-Boot-Abwehr. Sechs U-Boote der Marinen Griechenlands, Frankreichs, Italiens, Spaniens und der Türkei sind beteiligt. Kanada, Italien, Deutschland, Griechenland, die Türkei, Großbritannien und die USA setzen bei den Übungen, die bis zum 8. März dauern, Seeaufklärungsflugzeuge ein.
In Norwegen, Schweden und Finnland finden derzeit die Manöver „Nordic Response 2024“ statt. Über 20.000 Soldaten aus 13 Ländern nehmen daran teil, davon etwa 10.000 an Land. Zu den teilnehmenden Ländern gehören Belgien, Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Spanien, Schweden, Großbritannien und die USA. Diese Übungen dauern bis zum 14. März. Es wird darauf hingewiesen , dass diese Manöver in gewisser Weise mit den Joint-Warrior-Übungen der Marinen Großbritanniens, Islands und Norwegens verbunden sind, die Ende Februar stattfanden.
Zu den offiziellen Zielen gehört die Verbesserung der Erfahrungen und Kenntnisse für Operationen im kalten arktischen Klima. Die Übungen tragen zudem zu einer stärkeren Integration der nordeuropäischen Länder in die NATO bei und stärken die operative Zusammenarbeit im Bereich der kollektiven Verteidigung in den nordeuropäischen Ländern.
Im nordfinnischen Lappland führten Ausbilder der finnischen Streitkräfte im Februar verschiedene Kurse für Militärangehörige aus NATO-Staaten durch. Der Kurs behandelte Themen wie das Tragen von Kleidung in mehreren Schichten, Schutz vor Erfrierungen, die Erhaltung der Funktionalität, Feuermachen, die Entwicklung von Langlauffähigkeiten und Eisrettung. Es handelte sich um eine Art grundlegenden Winterüberlebenskurs in arktischen Breitengraden, wo die Durchschnittstemperatur im Winter regelmäßig unter -20 Grad Celsius fällt. Neben Finnland nahmen auch Militärangehörige aus Frankreich, Großbritannien und den USA an dieser Veranstaltung teil.
Die Besorgnis der NATO über militärische Aktionen in den nördlichen Breitengraden deutet auf den bedingten Gegner des Bündnisses hin – Russland. Neben der Teilnahme an allen NATO-Aktivitäten führen die USA auch eigene Übungen mit unterschiedlichen Zielen durch. Ende Februar führten die 1., 2. und 54. Security Force Assistance Brigades (spezialisierte Pentagon-Einheiten, deren Hauptaufgabe die Beratung, Unterstützung, Aufrechterhaltung der Kommunikation und die Bewertung von Operationen mit verbündeten Ländern und Partnerländern ist, SFAB) die zweite Übung „Gemeinsamer Sieg im Informationsumfeld“ durch.
Im Rahmen der Ausbildung wurden unter dem Vorwand der Legende, einen befreundeten Staat vor Störungen in Kommunikationssystemen zu schützen, folgende Aufgaben bearbeitet:
– Durchführung moderner Kriegsführung und Multi-Domain-Kriegsführung mit der Möglichkeit zur Fernsteuerung der Infrastruktur mithilfe von Cyber-Mitteln.
– Nutzung von UKW-Frequenzen und internetgesteuerten Systemen wie „Smart Home“ zur Durchführung von Informationsoperationen.
– Simulation der Funktionsweise sozialer Netzwerke und der Internetumgebung und Verbreitung bösartiger Links per E-Mail.
Bei diesen Manövern lag der Schwerpunkt auf elektronischer Kriegsführung und dem elektromagnetischen Spektrum, da diese für die Widerstandsfähigkeit des Kommandopostens und die Aufrechterhaltung eines niedrigen Signaturniveaus relevant sind. Diese Aufmerksamkeit könnte auf Daten von der ukrainischen Front zurückzuführen sein, wo russische Streitkräfte kürzlich erfolgreich ukrainische Kommandoposten identifizieren und unterdrücken konnten. Infolgedessen versucht das US-Militär, die Einheiten zu zwingen, ihre Signaturen und ihr gesamtes Emissionsspektrum zu reduzieren, um das Risiko einer Entdeckung und eines Angriffs zu verringern.
Die ersten Übungen dieser Art für die Security Force Assistance Brigade (SFAB) fanden im August 2023 statt. Ein Pentagon-Vertreter erklärte damals : „Wir haben viele Erkenntnisse gewonnen und nutzen diese, um unsere Trainingsstrategie im Informationsbereich zu erweitern und unsere Strategie langfristig mit dem National Training Center, dem Joint Readiness Training Center und dem Joint Pacific Multinational Readiness Center abzustimmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir der Zeit voraus sind und mit unserer Informationsdimension und der Ausbildung von Informationsvorteilen, insbesondere für konventionelle Armeeeinheiten, den Zielen der Armee und des Verteidigungsministeriums entsprechen.“
Laut dem Sprecher der Militärübungen gelang es den Verantwortlichen bereits während der Übungen im August, die Informationsdimension des russisch-ukrainischen Konflikts nachzubilden und die Soldaten über die Auswirkungen im Informationsbereich zu unterrichten, die ihre Missionen beeinflussen könnten. Die Soldaten wurden mit Mobiltelefonen und Laptops sowie Rollenspielern ausgestattet. Die Teilnehmer der Rollenspiele posteten in sozialen Netzwerken, und die Berater mussten diese Szenarien verfolgen und verstehen, wie sie diese im Hinblick auf die Beeinflussung ihrer Missionen bekämpfen konnten.
Es liegt auf der Hand, dass die eigentlichen Ziele solcher Aktivitäten darin bestehen, die Fähigkeiten des US-Militärs zu testen, insbesondere in einem Stellvertreterkrieg, an dem die USA nicht offiziell beteiligt sind. Die Ukraine ist natürlich ein hervorragendes Testgelände für solche Aktionen.
Hinweise auf eine mögliche direkte Beteiligung liefern jedoch auch andere Manöver. Anfang Februar führten die US-Marine, die US-Luftwaffe und das US-Heer nahe der Air National Guard Base auf dem Gowen Field in Idaho Kampfübungen durch, bei denen Massenverluste simuliert wurden .
Während dieser Übungen erhielten Soldaten, Piloten und Matrosen verschiedene Aufgaben, um unter schwerem Beschuss medizinische Hilfe zu leisten oder Verwundete zu transportieren. Soldaten, die nicht direkt an der Versorgung von Verletzten beteiligt waren, gaben mit Feuer Deckung und dichteten Nebel, um die Bewegungen der Sanitätsbrigade zu verbergen. Während der Evakuierung in Hubschraubern stabilisierte eine Intensivstation der Lufttransporttruppe der Armee den Zustand der Verletzten.
Offensichtlich besteht das Ziel solcher Übungen darin, die Koordination verschiedener Streitkräfte während einer groß angelegten Schlacht zu trainieren. Obwohl die USA mit China eine weitere klar definierte Bedrohung sehen, entsteht angesichts der anderen Manöver der NATO und der verstärkten militärisch-industriellen Modernisierung sowie Macrons Aussagen über die Entsendung von Truppen in die Ukraine, die als eine Art Test erschienen, der Eindruck, dass die Strategen der USA und der NATO ein rücksichtsloses militärisches Abenteuer gegen Russland planen.
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„Kognitive Kriegsführung“: Die NATO plant einen Krieg um die Köpfe der Menschen
Seit 2020 verfolgt die Nato Pläne zur psychologischen Kriegsführung, die gleichberechtigt neben den fünf bisherigen Operationsgebieten des Militärbündnisses (Land, Wasser, Luft, Weltraum, Cyberspace) stehen müssen. Sie ist das Schlachtfeld der öffentlichen Meinung. Nato-Dokumente sprechen von „kognitiver Kriegsführung“, also: mentaler Kriegsführung . Wie konkret ist das Vorhaben, welche Schritte wurden bisher unternommen und an wen richtet es sich?
Um im Krieg siegreich zu sein, muss man auch den Kampf um die öffentliche Meinung gewinnen. Dies geschieht seit über 100 Jahren mit immer moderneren Mitteln, den sogenannten Soft-Power-Techniken . Darunter versteht man all jene psychologischen Einflussmittel, mit denen Menschen so gelenkt werden können, dass sie sich dieser Kontrolle selbst nicht bewusst sind . Der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph Nye definiert Soft Power daher als „die Fähigkeit, andere ohne den Einsatz von Gewalt oder Zwang dazu zu bewegen, das zu tun, was man will“.
Das Misstrauen gegenüber Regierungen und Militär nimmt zu , während die NATO ihre Bemühungen verstärkt, im Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen immer ausgefeiltere psychologische Kriegsführung einzusetzen. Das Hauptprogramm hierfür ist die „Kognitive Kriegsführung“. Mit den psychologischen Waffen dieses Programms soll der Mensch selbst zum neuen Kriegsschauplatz erklärt werden, der sogenannten „Human Domain“ (menschlichen Sphäre).
Eines der ersten Dokumente der NATO zu diesen Plänen ist der im September 2020 im Auftrag des NATO Innovation Hub (kurz: IHub) verfasste Aufsatz „ NATO’s Sixth Domain of Operations “ . Autoren sind der Amerikaner August Cole, ein ehemaliger Journalist des Wall Street Journal mit Spezialgebiet Rüstungsindustrie, der mehrere Jahre für den transatlantischen Thinktank Atlantic Council gearbeitet hat, und der Franzose Hervé le Guyader .
IHub wurde 2012 gegründet und bezeichnet sich selbst als Thinktank, in dem „Experten und Erfinder aus aller Welt zusammenarbeiten, um die Herausforderungen der NATO zu lösen“. Der Sitz des Instituts befindet sich in Norfolk, Virginia, USA. Offiziell ist IHub kein Teil der NATO, wird aber vom NATO Allied Transformation Command , einem der beiden strategischen Hauptquartiere der NATO, finanziert.
Der Essay erzählt mehrere fiktive Geschichten und endet mit einer erfundenen Rede des US-Präsidenten, der seinen Zuhörern erklärt, wie kognitive Kriegsführung funktioniert und warum sich jeder daran beteiligen kann:
„Die heutigen Fortschritte in der Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Kognitionswissenschaft, die durch den scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch der Troika aus künstlicher Intelligenz, Big Data und der ‚digitalen Sucht‘ unserer Zivilisation vorangetrieben werden, haben eine weitaus beunruhigendere Aussicht geschaffen: eine integrierte fünfte Säule, in der jeder, ohne es zu wissen, nach den Plänen eines unserer Gegner handelt.“
Die Gedanken und Gefühle jedes Einzelnen stehen zunehmend im Mittelpunkt dieses neuen Krieges:
„Sie sind das umstrittene Gebiet, wo immer Sie sind, wer immer Sie sind.“
Darüber hinaus sei eine „stete Erosion der Moral der Bevölkerung“ zu beklagen. Cole und Guyader argumentieren daher, dass der menschliche Bereich die größte Schwachstelle darstelle. Dieser Operationsbereich („Domäne“) sei folglich die Grundlage für die Kontrolle aller anderen Schlachtfelder (Land, Wasser, Luft, Weltraum, Cyberspace). Daher fordern die beiden Autoren die NATO auf, schnell zu handeln und den menschlichen Geist als ihren „sechsten Operationsbereich“ zu betrachten.
Partizipative Propaganda
Fast zeitgleich arbeitete der ehemalige französische Funktionär und Chief Innovation Officer bei IHub, François du Cluzel , an dem umfassenden Strategiepapier „ Kognitive Kriegsführung “, das IHub im Januar 2021 veröffentlichte. Statt fiktiver Szenarien verfasste du Cluzel eine detaillierte Analyse des Krieges der Köpfe. Wie die Autoren von „The Sixth Domain of NATO Operations“ betont er, dass „Vertrauen (…) das Ziel ist. Dieses kann im Informationskrieg oder durch PsyOps, also psychologische Kriegsführung, gewonnen oder zerstört werden. Konventionelle Soft-Power-Techniken reichten jedoch nicht mehr aus; nötig sei kognitive Kriegsführung, also eine auf den Geist bezogene „partizipative Propaganda“, an der „jeder teilnimmt“.
Es ist nicht klar, wer genau das Ziel dieser Propaganda ist, aber du Cluzel betont, dass jeder an dieser neuen Form der Manipulation beteiligt ist und dass das Ziel darin besteht, das „Humankapital“ der NATO zu schützen. Der Anwendungsbereich bezieht sich auf „die gesamte menschliche Umwelt, ob Freund oder Feind“. Obwohl die Fähigkeiten und die Bedrohung des Feindes im Bereich der kognitiven Kriegsführung „noch gering“ seien, fordert du Cluzel die NATO auf, schnell zu handeln und die kognitive Kriegsführung zu fördern:
Kognitive Kriegsführung könnte das fehlende Element sein, das den Übergang vom militärischen Sieg auf dem Schlachtfeld zu einem dauerhaften politischen Erfolg ermöglicht. Der „menschliche Bereich“ könnte der entscheidende Faktor sein (…). Die ersten fünf Operationsgebiete [Land, See, Luft, Weltraum, Cyberspace] können zu taktischen und operativen Siegen führen, aber nur das menschliche Operationsgebiet kann zum endgültigen und vollständigen Sieg führen“ (Seite 36).
Neurowissenschaft als Waffe
Wenige Monate später griff die Nato die Forderungen der Strategen auf. Im Juni 2021 hielt sie im französischen Bordeaux ihr erstes wissenschaftliches Treffen zum Thema kognitive Kriegsführung ab. In einem Begleitband zum Symposium hatten Strategen des Innovation Hub Gelegenheit, gemeinsam mit hochrangigen Nato-Vertretern zu sprechen. Im Vorwort dankte der französische General André Lanata „unserem Innovation Hub“ und betonte, wie wichtig es sei, „die Schwächen der menschlichen Natur auszunutzen“ und diesen „Kampf“ in „allen gesellschaftlichen Bereichen“ zu führen. Dabei gehe es auch darum, die Neurowissenschaften in das Wettrüsten einzubeziehen („Weaponization of Neurosciences“). Es wurde darauf hingewiesen, dass die kognitive Kriegsführung der Nato eine Verteidigung gegen ähnliche Kriege Chinas und Russlands sei. Deren „Desinformationsaktivitäten“ hätten bei den Nato-Verbündeten zu „wachsender Besorgnis“ geführt.
Auf dem Symposium wurde intensiv darüber diskutiert, wie man die Neurowissenschaften nutzen kann, um digitale Angriffe auf das menschliche Denken, Fühlen und Handeln durchzuführen:
„Aus Sicht des Angreifers ist die effizienteste, wenn auch schwierigste Maßnahme die Förderung der Nutzung digitaler Geräte, die alle Ebenen der kognitiven Prozesse eines Gegners stören oder beeinflussen können“ (Seite 29).
Die NATO möchte potenzielle Gegner möglichst gründlich verwirren, um ihnen ihr Verhalten zu „diktieren“. (Seite 29) Im Rahmen des Symposiums verfasste Du Cluzel gemeinsam mit dem französischen Kognitionsforscher Bernard Claverie einen Aufsatz, in dem er erklärte, dass es – entgegen der Behauptung, man reagiere nur auf Bedrohungen aus Russland oder China – auch „ gut sei, wohlüberlegte Angriffsprozesse sowie Gegen- und Präventivmaßnahmen durchzuführen“ (Seite 26):
„Das erklärte Ziel ist es, die Art und Weise, wie man seine Realität, sein spirituelles Selbstvertrauen, seinen Glauben an funktionierende Gruppen, Gesellschaften oder sogar Nationen aufbaut, anzugreifen und auszunutzen, abzuwerten oder sogar zu zerstören“ (Seite 27).
Strategen geben selten offen zu, dass diese Techniken nicht nur gegen feindliche Bevölkerungen, sondern auch innerhalb der NATO-Staaten eingesetzt werden können. Aussagen dazu sind oft vage. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die NATO auch die eigene Bevölkerung ins Visier nimmt. Der französische General Eric Autellet schreibt in einem Artikel in der oben zitierten Anthologie (S. 24):
Seit Vietnam sind unsere Kriege trotz militärischer Erfolge verloren gegangen, größtenteils aufgrund der Schwäche unseres Narrativs (d. h., die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen), sowohl gegenüber der lokalen Bevölkerung in den Einsatzgebieten als auch gegenüber unserer eigenen Bevölkerung. In unseren Beziehungen zu Feind und Freund stehen zwei Dinge auf dem Spiel, und wir können uns für passive und aktive Handlungsweisen – oder beides – entscheiden, wenn wir die Grenzen und Beschränkungen unseres Modells von Freiheit und Demokratie bedenken. Was unseren Feind betrifft, müssen wir in der Lage sein, die Gedanken unserer Gegner zu „lesen“, um ihre Reaktionen vorherzusehen. Falls nötig, müssen wir in der Lage sein, in die Gedanken unserer Gegner einzudringen, um sie zu beeinflussen und sie in die Lage zu versetzen, in unserem Namen zu handeln. Was unseren Freund (und sogar uns selbst) betrifft, müssen wir in der Lage sein, unser Gehirn zu schützen und unser kognitives Verständnis und unsere Entscheidungsfähigkeit zu verbessern.
Der NATO-Innovationswettbewerb im Herbst 2021
Den nächsten Schritt unternahm der IHub, der im Oktober 2021 den NATO Countering Cognitive Warfare Innovation Competition offiziell ausrief. Die Innovation Challenge existiert seit 2017 und findet seitdem zweimal jährlich statt. Um möglichst viele Ideen zu sammeln, betont die NATO stets den offenen Charakter des Wettbewerbs: „Die Challenge steht allen (Einzelpersonen, Unternehmern, Start-ups, der Industrie, der Wissenschaft usw.) offen, die sich in einem NATO-Mitgliedsland befinden.“ Den Gewinnern winkt ein Geldpreis von 8.500 US-Dollar.
Die Themen werden in Zusammenarbeit mit der Johns Hopkins University ausgewählt. Es handelt sich stets um Themen, die „besonders einflussreich für die Entwicklung zukünftiger militärischer Fähigkeiten“ sind, getreu dem Motto „Der beste Weg, die Zukunft vorherzusehen, ist, sie zu erfinden“. Die Bereiche sind Künstliche Intelligenz, Autonome Systeme, Weltraum, Hyperschall, Quantentechnologie und Biotechnologie.
So sind die Leitfragen in den bisherigen Wettbewerben gegensätzlich und setzen ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Im Herbst 2018 ging es beispielsweise um Systeme, mit denen sich unbemannte Drohnen abfangen lassen. Hier siegte der niederländische Drohnenhersteller Delft. Im Herbst 2019 ging es darum, Soldaten mit psychischem Stress oder Erschöpfung zu helfen, um ihre Leistungsfähigkeit im Kampf zu verbessern. Im Frühjahr 2021 ging es um die Weltraumüberwachung. Hier siegte das französische Start-up Share My Space.
Trotz der unterschiedlichen Schwerpunkte kristallisiert sich ein Thema immer wieder heraus: Informations- und Datenmanagement im Internet. Im Frühjahr 2018 widmete sich der Innovationswettbewerb diesem Thema unter dem Motto „Komplexität und Informationsmanagement“, im Frühjahr 2020 lautete das Thema „Fake News in Pandemien“ und im Herbst 2021 schließlich „Die unsichtbare Bedrohung – Neutralisierung kognitiver Kriegsführung“.
„Die fortschrittlichste Form der Manipulation“
Im Oktober 2021, kurz bevor dieser Wettbewerb auf der IHub-Website veröffentlicht wurde, sendete die NATO einen Livestream, in dem kognitive Kriegsführung diskutiert und zur Teilnahme am Innovationswettbewerb aufgerufen wurde. Die Aufgabe sei „derzeit eines der heißesten Themen für die NATO“, betonte du Cluzel in seiner Eröffnungsrede. Die französische Verteidigungsexpertin Marie-Pierre Raymond nutzte die Gelegenheit, um zu erklären, was kognitive Kriegsführung eigentlich ist: nämlich „die fortschrittlichste Form der Manipulation, die es heute gibt“.
Zehn Teilnehmer nahmen am Finale des Wettbewerbs teil, das knapp zwei Monate später ausgestrahlt wurde . Acht von ihnen hatten Computerprogramme entwickelt, die mithilfe künstlicher Intelligenz große Datenmengen im Internet scannen und analysieren, um die Meinungen, Gedanken und den Informationsaustausch der Menschen besser zu überwachen und vermutlich auch vorherzusagen. Das beliebteste Ziel von Computerprogrammen sind soziale Medien: Facebook, Twitter, Tik-Tok, Telegram.
Überzeugungen und Verhaltensweisen ändern
Gewinner war das US-Unternehmen Veriphix (Motto: „Wir messen Überzeugungen, um Verhalten vorherzusagen und zu ändern“), das eine Plattform entwickelt hat, mit der sich sogenannte Nudges, also unbewusste psychologische „Anstöße“ im Internet, identifizieren lassen. Die Veriphix-Plattform sei seit Jahren im Einsatz und arbeite mit mehreren Regierungen und großen Unternehmen zusammen, so Chef John Fuisz, der enge familiäre Verbindungen zum US-Sicherheitsapparat hat. Für ihn geht es bei der kognitiven Kriegsführung darum, Überzeugungen zu verändern („ changing beliefs “). Seine Software könne diese Veränderungen „innerhalb Ihres Militärs, innerhalb Ihrer Bevölkerung und innerhalb einer ausländischen Bevölkerung“ analysieren, wie er der Jury erklärte .
Angesichts der Tatsache, dass kognitive Kriegsführung bereits im Gange ist und im Krieg in der Ukraine derzeit die neuesten Manipulationstechniken eingesetzt werden, um die Gedanken und Gefühle der Bevölkerung aller am Krieg beteiligten Nationen zu lenken, wäre eine Klärung der Soft-Power-Techniken der kognitiven Kriegsführung wünschenswert und dringender denn je.
Baltische Staaten und Polen verlangen Verteidigungssystem an Grenze zu Russland
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wachsen im Osten der EU die Sorgen. Angesichts der Bedrohungen durch den Kreml und Belarus fordern Polen, Estland, Lettland und Litauen nun die Unterstützung der EU bei der militärischen und zivilen Grenzsicherung. »Wir benötigen eine Verteidigungsinitiative, um die Europäer heute und in den kommenden Jahren zu schützen«, schrieben die Staats- und Regierungschefs der Länder kurz von dem EU-Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag in einem Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel.
Als konkretes Projekt nennen sie den »Aufbau eines Verteidigungsinfrastruktursystems entlang der EU-Außengrenze zu Russland und Belarus«. Dieses könne der dringenden Notwendigkeit Rechnung tragen, die EU vor militärischen und hybriden Bedrohungen zu schützen. Von den hybriden Bedrohungen beeinträchtige insbesondere die instrumentalisierte Migration die Sicherheit des gesamten EU-Gebiets, heißt es in dem Brief. Damit sind Versuche gemeint, gezielt Menschen aus armen oder konfliktreichen Ländern in die EU zu schleusen.
Das Ausmaß und die Kosten der angedachten Verteidigungsinitiative erfordern aus Sicht der Autoren des Schreibens politische und finanzielle EU-Unterstützung. Planung und Umsetzung sollten aber in Abstimmung mit der Nato und deren militärischen Anforderungen erfolgen, heißt es in dem Brief, der der Nachrichtenagentur dpa vorliegt. Er wurde von Polens Regierungschef Donald Tusk, Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas, Litauens Präsident Gitanas Nausėda und Lettlands Ministerpräsidentin Evika Silina unterzeichnet.
»Wir leben im Schatten des Krieges«
Mit Blick auf die Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko schreiben die Staats- und Regierungschefs, sie hätten wenig Zweifel, dass deren Absichten zunehmend feindselig würden, wenn man sie nicht zurückhalte. »Russland hat seine strategischen Ziele, die die Wiederherstellung von Pufferzonen und Einflussbereichen der Vergangenheit beinhalten, nicht geändert, und das stellt eine existenzielle Bedrohung für Europa und die transatlantische Gemeinschaft dar«, warnen sie. »Wir leben im Schatten des Krieges, und unsere Länder spüren, was es bedeutet, die Frontstaaten der EU zu sein.«
Unabhängig von der EU-Unterstützung für die Grenzsicherung fordert Polen gemeinsam mit Griechenland zudem eine gemeinschaftliche EU-Finanzierung des Ausbaus der europäischen Luftverteidigung. In einem neuen Konzeptpapier zu der Initiative mit dem Namen »Shield and Spear« (deutsch: Schild und Speer) heißt es: »Da sich die Luftbedrohungen an den europäischen Grenzen weiterentwickeln, (…) wird ein neuer strukturierter und umfassender Ansatz für die Luftverteidigung auf unserem Kontinent unverzichtbar.« Die Bedrohungen reichten von fortschrittlichen Drohnen und elektronischer Kriegsführung bis hin zu Langstreckenraketen, Hyperschall-Marschflugkörpern oder Kampfflugzeugen der fünften Generation.
Europa beginnt nach dem Brexit-Schock mit Reform-„Reflexionen“
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In a memorandum of the U.S. Government’s
Zusätzliche Berichterstattung von Alastair Macdonald und Paul Taylor, EU-Gipfelteam; Verfasser: Noah Barki
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Referendum im Vereinigten Königreich: Wer kann verhindern, dass die Landschaft nach dem Brexit auseinanderfällt?
Das Votum für den Austritt aus der EU wirft Zweifel an der Zukunft des Vereinigten Königreichs, der EU, der NATO und der Führung des Vereinigten Königreichs selbst auf. Kann irgendjemand kompetent in die Lücke treten, die David Camerons Rücktritt hinterlassen hat?
Mit ihrem üblichen Talent für fehlgeleiteten Optimismus hatte die Börse in den frühen Morgenstunden des Freitags entschieden, dass ihre selbstgefällige Wette auf ein Remain-Votum sich auszahlen würde. Als die Mehrheit des Leave-Lagers für einen britischen Austritt aus der Europäischen Union (EU) später unübersehbar wurde, brachen die Londoner Märkte um 200 Milliarden Pfund ein, und das Pfund Sterling erlebte den stärksten Einbruch seit 30 Jahren.
Die Lage könnte sich beruhigen, sobald besonnenes Eigeninteresse die Oberhand über leidenschaftliche Herzen gewinnt. Doch viele Kräfte sind am Werk, die meisten davon jenseits der provinziellen Interessen der britischen Wähler oder der Kontrolle der Politiker. In Berlin, Brüssel, Paris und weit darüber hinaus sind nicht alle wohlwollend.
Wird das Ergebnis vom Donnerstag – 17,4 Millionen zu 16,1 Millionen Stimmen – zum Zerfall des 309 Jahre alten Vereinigten Königreichs führen? Gut möglich. Wird auch die EU auseinanderbrechen? Das ist nicht auszuschließen, nachdem ein so solider Baustein wie Großbritannien aus seiner brüchigen Mauer entfernt wurde. Die NATO in einer Ära des erneuten US-Isolationismus und Washingtons „Schwerpunkt Asien“? Wer kann das schon sagen? Großbritannien war in der Regel Washingtons beste Strategie gegenüber Europa.
Innerhalb einer Stunde nach der offiziellen Urteilsverkündung um 7.22 Uhr (2.22 Uhr ET) klärte Premierminister David Cameron, der sich mit seiner Wette auf einen Sieg bei einem binären Referendum über den Verbleib in der EU so gewaltig verschätzt hatte, die Wunschdenker über eine der vielen neuen Unsicherheiten auf.
Cameron – seit 2010 Premierminister – widersetzte sich den Appellen seiner Freunde und Kabinettskollegen, die so erbittert gegen ihn gekämpft hatten, und kündigte seinen Rücktritt an . Obwohl er die Niederlage mit Würde hinnahm, war die Botschaft klar: Jemand anderes musste das Chaos beseitigen. Freiwillige meldeten sich nicht sofort. Konservative wissen, dass tiefe Spaltungen in der Europafrage zum Sturz ihrer letzten beiden Premierminister John Major und Margaret Thatcher beigetragen haben.
Ein Führungsvakuum ist nun in einer gefährlichen Zeit, in der (so Cameron) „entschlossene und engagierte Führung“ gefragt ist, real möglich. Hätte die oppositionelle Labour-Partei eine überzeugendere Führung, würden Forderungen nach vorgezogenen Neuwahlen Mitte Oktober eine Chance eröffnen. Doch Oppositionsführer Jeremy Corbyn, Großbritanniens sanftmütiger Bernie Sanders, schlug einen zweideutigen Ton an, als er halbherzig zum Verbleib in der EU aufrief, nachdem er in seiner Karriere genau das Gegenteil behauptet hatte. Die Labour-Stimmen aus der Mitte der Labour-Partei nahmen davon kaum Notiz. Zu den Unruhen in Westminster, die an das Kapitol erinnern, kam am Freitag zudem eine Kampfansage an Corbyns eigene Führung durch oppositionelle Labour-Abgeordnete.
Die Wählermüdigkeit ist deutlich spürbar. Doch die Ablenkung durch einen spaltenden konservativen Führungskampf zwischen jetzt und Anfang Oktober ist unvermeidlich. Sie verschärft die Komplexität der 43 Jahre alten Beziehung zur EU, die – wie ein berühmter juristischer Spruch lautet – „alle Ästuare und Flüsse“ des englischen Rechtssystems, auch die Handels-, Finanz- und Einwanderungsströme, durchdrungen hat.
In London, Berlin oder Brüssel gibt es keinen Masterplan, wie man am besten vorgehen kann, ohne die Verbitterung oder den Schaden für beide Seiten zu minimieren – in einer Zeit, in der die Schwäche Europas – wirtschaftlich, politisch und sogar militärisch – schmerzlich offensichtlich ist. Wie soll es einen solchen Plan geben, wenn die erschöpfte und meist mittelmäßige Führung der EU seit 2008 mit der anhaltenden Wirtschaftsrezession, der Eurokrise und den Wellen verzweifelter Flüchtlinge und Migranten aus dem Süden und Osten beschäftigt ist?
In der gegenwärtigen bitteren Stimmung – die so sehr an die des Mittleren Westens erinnert – werden viele wütende Menschen einen kathartischen Anfall nationalistischer Selbstbehauptung genießen. Vom Südchinesischen Meer bis zur Krim ist Selbstbehauptung angesagt, nicht die mühsame Zusammenarbeit der mangelhaften, aber prosperierenden Nach-1945-Ära. Die britische Abstimmung war auch ein Sieg für Donald Trump, der eingeflogen war, um über Nacht seine schottischen Golfplätze zu zählen. Die Briten „haben ihre Unabhängigkeit zurückerobert“ , sagte er am Freitag.
Wer wird Großbritannien in dieses unbekannte Terrain führen? Die Buchmacher setzen auf den Brexit- Führer und ehemaligen Londoner Bürgermeister Boris Johnson, den elitären Populisten, der in der Bevölkerung eine Mischung aus Sympathie und tiefem Misstrauen genießt: clever, aber unvorsichtig, ein Wortkünstler, aber kein Detail. Dieses Ergebnis ist wahrscheinlich, aber auch ungewiss. Vorsicht ist geboten bei Innenministerin Theresa May, die sich heimlich als zweite Thatcher positioniert. In seiner verhaltenen Siegesrede erwähnte Johnson seine Führungsambitionen mit keinem Wort und versuchte, junge, gebildete Wähler – die überwiegend für den Verbleib in der EU waren – zu beruhigen, dass Großbritannien die Zugbrücke nicht hochziehen werde.
In einem Land, das in zwei Lager gespalten ist (52 zu 48 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent), wurde schnell klar, dass dies vor allem ein Sieg des latenten englischen Nationalismus war. Diese Wahl war ein Ausdruck des Unmuts älterer, ärmerer und weniger gebildeter Wähler außerhalb der Megastadt London über die schädlichen Nebenwirkungen der Globalisierung, die ihnen geschadet haben. Nieder mit Experten und Eliten. Liegen sie nicht immer falsch?
In Großbritannien wurde der „Bauernaufstand“ durch den jahrzehntelangen Wiederaufstieg des keltischen Regionalnationalismus im postimperialen Großbritannien verschärft, insbesondere in Schottland, das seit 1999 über ein eigenes „dezentralisiertes“ Parlament verfügt. Da Schottland und (knapp) Nordirland – die einzigen Regionen neben London – für den Verbleib in der EU gestimmt haben, ist ihre Verbindung zu England nun erneut in Frage gestellt.
Schottlands nationalistische Erste Ministerin Nicola Sturgeon wies umgehend auf die „sehr wahrscheinliche“ Möglichkeit einer zweiten Unabhängigkeitswahl hin, nachdem sie 2014 mit 55 zu 45 Prozent verloren hatte. Sturgeon sollte ihr passen (bei einer zweiten Niederlage könnte es auch anders kommen). Nicht zum ersten Mal stellte Sturgeon mit ihrem geschickten Tonfall ihre britischen Rivalen, darunter Cameron und Johnson, in den Schatten.
In Belfast meinte Sinn Féins ehemaliger IRA-Kommandeur und heutiger Politiker Martin McGuiness, eine erneute Abstimmung über die endgültige Vereinigung der 32 irischen Grafschaften würde die Wiederherstellung einer 480 Kilometer langen Landgrenze mit der EU verhindern. Das keltische Wales, ein Hauptempfänger von EU-Geldern für ärmere Regionen, stimmte für den Austritt. Vielleicht unlogisch, aber ein weiterer Schmerzensschrei.
Die hochtrabende Rhetorik der Brexit-Befürworter drehte sich um die Wiederherstellung von „nationaler Souveränität“, „Demokratie“ und „Freiheit“ und ein Ende der Flut realer und imaginärer Richtlinien und Bürokratie aus Brüssel, dem EU-Hauptquartier. Doch wie in den konservativen US-Staaten wird in dieser Rhetorik manchmal Freiheit von Regulierung und sozialer Absicherung verschleiert, die Kapital und Konzernen besser nützt als Wählern, die in schlecht bezahlten und unsicheren Jobs festsitzen.
Im weitgehend säkularen Europa bleiben die heftigeren Aspekte des amerikanischen Kulturkampfes – Waffen, Gott, Abtreibung – im öffentlichen Diskurs meist außen vor. Bekannter und entscheidender für das heutige Ergebnis ist die dürftige Rhetorik der Brexit-Führung, die ihre Wut gegen die über Millionen osteuropäischen Arbeitssuchenden richtet, die nach Großbritannien kommen, seit sie nach dem EU-Beitritt zehner ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten im Jahr 2004 ihr Recht auf „Freizügigkeit“ in Anspruch genommen haben.
Einige Wahlhelfer berichten, dass asiatische Migrantenfamilien, die schon lange in britischen Städten ansässig sind, gemeinsam mit ihren weißen Nachbarn für den Brexit gestimmt haben, um den Zustrom der Neuankömmlinge einzudämmen. Wenn Camerons strategischer Fehler darin bestand, ein riskantes Referendum zuzulassen, so beging auch die letzte Labour-Regierung unter Tony Blair und Gordon Brown einen schwerwiegenden Fehler. Sie versäumte es, dem „polnischen Klempner“ Übergangsbeschränkungen aufzuerlegen, wie es Frankreich und Deutschland taten. Dies schürte den Unmut über sieben Jahre Haushaltskürzungen in Großbritannien.
Wie beim Irakkrieg 2003, dem die meisten EU-Staaten fernblieben, und wie Großbritanniens Neigung, in der EU-Politik das passive Opfer zu spielen, war auch Großbritanniens Missmanagement der Einwanderungspolitik sein eigenes. Doch die Schuld auf „Brüssel“ zu schieben – ebenso wie auf „Washington“ – ist eine beliebte Entschuldigung für Versagen auf allen Ebenen, auch auf persönlicher Ebene. Im Fernsehen machte Brexit-Politiker Michael Gove die EU-Fischschutzpolitik für die Zerstörung des Aberdeener Großhandels seines Vaters verantwortlich. Recherchen des Guardian zeigten, dass dies nicht stimmte , doch viele Wähler waren eher emotional als detailliert.
Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party (Ukip), Großbritanniens populistischer Tea-Party-Partei, der die Einwanderungskarte mit eiserner Effizienz ausspielte, feierte am „Unabhängigkeitstag“ einen ganz persönlichen Triumph – eine Absage an die arroganten Eliten. Doch die „Was ist mit uns?“-Stimmung der Brexit-Befürworter beschränkt sich keineswegs nur auf Großbritannien.
Bereits am Freitagmorgen forderten die Anführer der französischen und niederländischen Brexit-Bewegung ein ähnliches Referendum über die „Souveränität“ gegen das, was sie regelmäßig als Tyrannei der gebildeten Eliten aus den Großstädten darstellen. In den EU-Hauptstädten zeigten sich enttäuschte Politiker, die wissen, dass ihr Leben dadurch erschwert wurde, vorsichtig, wollen Großbritannien aber aus Angst vor einer Ansteckung schnell aus der EU führen.
Alle Beteiligten betonen, das Leben werde vorerst normal weitergehen. Doch das stimmt nicht. Der globale Werbemagnat Martin Sorrell sprach das Offensichtliche aus, als er feststellte: „Unsicherheit ist der Feind des Wachstums.“ Entgegen Camerons Wahlkampfaussagen wird Großbritannien nicht sofort Artikel 50 der EU-Verträge aktivieren und den formellen zweijährigen Austrittsprozess einleiten.
Zunächst stehen informelle Gespräche hinter verschlossenen Türen an. Doch Wähler, die den Brexit als Allheilmittel für Großbritanniens Probleme befürworteten, dürfen sich darauf einiges versprechen. Die versprochene Erleichterung der Sparmaßnahmen durch die Rückführung der EU-Haushaltsbeiträge? Ein Ende des Zustroms von Migranten, von denen die Hälfte der 330.000 Nettomigranten des letzten Jahres aus der EU stammte? All das braucht Zeit und Geduld – Eigenschaften, die Mangelware sind.
Doch selbst wenn sich die Hoffnungen der Brexit-Befürworter auf eine „glücklichere Zukunft“ bewahrheiten, wird es kurzfristig schwierig. Die Marktturbulenzen sind erst der Anfang.
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