Das Alibi der Tyrannen

Das Alibi der Tyrannen
1. Juni 2024
Imperien, die die Länder des Südens seit Jahrhunderten demütigen und ausplündern, reden ihren eigenen Bevölkerungen ein, dies geschehe zum allgemeinen Besten.
„Die Lüge wird zur Weltherrschaft gemacht“, schrieb Franz Kafka. Seit Jahrhunderten ist die Ideologie westlicher Staaten verbunden mit dem kolonialistischen Denken und Handeln ihrer jeweiligen Machthaber. Um ihres eigenen Machterhalts willen haben sie ihren Bevölkerungen dieses eingeimpft. Die Bewohner der Imperien — auf das britische folgte das US-amerikanische — identifizieren sich daher, bewusst oder unbewusst, stets eher mit ihren westlichen imperialistischen Regierungen als mit den Kolonisierten. Belege dafür können wir bis heute finden: Wie wäre es sonst möglich, dass die permanenten Kriege und zum Himmel schreienden Verbrechen der westlichen Imperien — verübt unter dem Banner der „westlichen Werte“ — so wenig beachtet und verurteilt, vielmehr überwiegend einfach hingenommen werden?

von Ingrid Ansari (manova)

Die Macht der Propaganda
Die Frage ist, wie es den Regierungen möglich war, den Bevölkerungen dieses Denken so tief einzupflanzen und sie letztlich blind für die Verbrechen zu machen. Die Antwort lautet naturgemäß durch Propaganda mithilfe von Operateuren im Hintergrund: Psychologen, supranationalen Foren, Thinktanks, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Stiftungen, Geheimdiensten und Medien, um nur einige der ständig wachsenden Netzwerke zu nennen, die sich in den Dienst hegemonialer Interessen gestellt haben. Eine Propaganda, die danach strebt, immer unsichtbarer ins Unbewusste schon von Kindern einzudringen. „Sie machten es listig“, wusste schon Friedrich Schiller in „Kabale und Liebe“. O-Ton Ex-CIA-Direktor Mike Pompeo: „We lied, we cheated, we stole“, und das Publikum ist so gehirngewaschen, dass es darüber auch noch lacht. Die jahrzehntelange Propaganda hat bewirkt, dass wir die Welt durch die Augen der Eliten sehen gelernt haben.

Der Schriftsteller Harold Pinter nutzte 2005 fast ganz seine Nobelpreisrede dazu, dieses Phänomen zu beleuchten. Um vorzuführen, wie die Demütigungen, die man den überfallenen und ausgeraubten Völkern zugefügt hat, verharmlost und verschleiert wurden. Zitat:

„Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden.

In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet: Ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts.

Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemanden. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muss man Amerika lassen: Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben und sich dabei als Streiter für das universell Gute gebärdet.“

Die Imperien belehrten und belehren, überfielen und überfallen andere Länder im Namen von Demokratie und Menschenrechten. Oder wie Albert Camus es ausgedrückt hat: „The welfare of the people in particular has always been the alibi of tyrants” (Das Wohlergehen der Menschen war schon immer das Alibi für Tyrannen).

Schwarz-Weiß-Denken, Kriege und die Folgen
Das machtpolitisch gewollte, den Bürgern über Jahrhunderte anerzogene Denken des Westens ist schwarz-weiß. Das ist die westliche Prägung. Es gibt keine Grautöne. George W. Bush prägte 2002 für seine vermeintlichen Gegner das Schlagwort „Die Achse des Bösen“. Kriege, Regimewechsel und Umstürze müssen den Bürgern mit mehr oder weniger raffiniert hergestellten Kriegslügen nahegebracht werden.

Wir sollen die Lage der jeweiligen Gegner und zivilen Opfer weder bemerken noch verstehen. Die Mächtigen möchten naturgemäß nicht, dass wir uns einer unserer menschlichsten Empfindungen, der Einfühlung, bedienen.

Zitat Harold Pinter:

„Wie jeder der hier Anwesenden weiß, lautete die Rechtfertigung für die Invasion des Irak, Saddam Hussein verfüge über ein hoch gefährliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen einige binnen 45 Minuten abgefeuert werden könnten, mit verheerender Wirkung. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht wahr. Man erzählte uns, der Irak unterhalte Beziehungen zu al-Qaida und trage Mitverantwortung für die Gräuel in New York am 11. September 2001. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht wahr. Man versicherte uns, der Irak bedrohe die Sicherheit der Welt. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht wahr.“

Viele Narrative passen hinten und vorn nicht zusammen, doch sie werden auch beibehalten, wenn im Laufe der Zeit massenhaft Gegenbeweise auftauchen. Untersuchungskommissionen werden eingesetzt bis zum Abwinken, Sachverständige reden sich den Mund fusselig und schreiben sich die Finger wund. Der Mord an John F. Kennedy bleibt offiziell von einem Einzeltäter begangen; der Kriegsverbrecher Henry Kissinger starb als hoch geachteter Staatsmann. Jeder von uns kennt solche Beispiele. Die Muster sind immer dieselben. Doch dadurch machen sich die Institutionen naturgemäß immer unglaubhafter für diejenigen, die das über Jahrzehnte beobachten und recherchieren.

Man kann Logik und Vernunft nicht ständig weiter herausfordern. Doch die Wahrheit ist: All dies nützt uns nicht viel. Wir sind machtlos gegen die Mächtigen, wenn sie mithilfe der Medien auf ihrem Narrativ bestehen.

Da die Vereinigten Staaten schlagkräftige Streitkräfte aufgebaut hatten und die hohen Kosten auch noch in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rechtfertigen wollten, brauchte man die Existenz oder wenigstens die Aussicht auf Feinde. Die schien es nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr zu geben, und es klingt fast verzweifelt, wenn Colin Powell im April 1991 ausruft: „I‘m running out of demons. I’m running out of villains. I’m down to Castro and to Kim Il Sung” (Mir gehen die Dämonen aus. Mir gehen die Schurken aus. Mir bleiben nur noch Castro und Kim Il Sung).

Mit dem völkerrechtswidrigen Kosovokrieg, mit dem jahrelangen „Krieg gegen den Terror“ und jetzt mit dem Stellvertreterkrieg gegen Russland ergab sich für die NATO dann erneut diese Rechtfertigung.

Die Kriege des Imperiums zerstörten und zerstören auf ihren Rohstoffraubzügen ganze Länder in Afrika, Asien und Südamerika, entwurzeln die Menschen, entziehen ihnen die Lebensgrundlagen und treiben sie über tödliche Wege nach Europa, ins Ungewisse, in eine andere Kultur, wo ihr Kommen eine über Jahrhunderte verbreitete Befremdung und Abwehr auslöst und die Unfähigkeit, sich mit den wirklichen Gründen und Zielen dieser Einwanderung zu befassen. Diese „Teile und herrsche“-Methode dient nicht erst seit heute dazu, dass Teilgruppen einer Gesellschaft sich gegeneinander wenden, anstatt sich als Gemeinschaft gegen die Herausforderungen zu stellen.

Die Obsession mit der Rasse
Die Obsession mit der Rasse kommt aus dem Westen, dessen Regierungen heute keine Gelegenheit auslassen, um Teile ihrer Bevölkerungen in Umkehr — oder in Projektion — als Rassisten zu bezeichnen.

Von Winston Churchill gibt es gleich eine Reihe von Zitaten. Hier nur zwei zur Auswahl:

„I am strongly in favour of using poisoned gas against uncivilized tribes” (Ich habe grundsätzlich nichts dagegen, Giftgas gegen unzivilisierte Stämme einzusetzen).

„I do not admit, for instance, that a great wrong has been done to the Red Indians of America or the black people in Australia. I do not admit that a wrong has been done to these people by the fact that a stronger race, a higher-grade race, a more worldly-wise race, to put it that way, has come in and taken their place” (Ich bin nicht der Meinung, dass den Indianern in Amerika und den Ureinwohnern von Australien großes Unrecht angetan wurde. Ich stimme dem insofern nicht zu, weil eine stärkere Rasse, eine hochwertigere Rasse, eine welterfahrenere Rasse, um es mal so auszudrücken, gekommen ist und ihren Platz eingenommen hat).

Was in Abu Ghraib, in Guantanamo und in anderen geheimen Folterlagern außerhalb der USA geschah, spottet jeder Rede der westlichen Machthaber über die immer wieder aufgerufenen „westlichen Werte“, siehe „The Report“, ein Film über die Foltermethoden der CIA nach 9/11. Man erinnere sich an die Tötungen der — vorher vom Westen hofierten und benutzten — Staatsoberhäupter Gaddafi und Saddam Hussein.

Kürzliche Aussagen von israelischen Politikern über die Menschen in Gaza passen in dieses Konzept. Verteidigungsminister Joaw Galant: „We are fighting human animals and we will act accordingly” (Wir bekämpfen menschliche Tiere und werden entsprechend handeln). Der stellvertretende Bürgermeister von Jerusalem Arieh King steigerte das noch auf X: „They aren‘t human beings and not human animals. They are subhuman and that’s how they should be treated” (Das sind keine menschlichen Wesen und keine menschlichen Tiere. Das sind Untermenschen, und so soll man sie auch behandeln).

Die Brennpunkte Gaza und Westbank
O-Ton Norbert Blüm bei „Hart aber fair“ vom April 2015 nach einem Besuch der von Israel besetzten Westbank voller Empörung:

„Das würde kein Mensch widerspruchslos ertragen, tagtäglich willkürlich drangsaliert zu werden. Man muss sich das Leben auf der Westbank so vorstellen: ein zerstückeltes Land, von Mauern zerstückelt. (…) Bauern kommen nicht auf ihr Land. (…) Ich kann mir nicht vorstellen, dass dadurch Terrorismus bekämpft wird, dass Kinder gequält werden, dass Menschen unterdrückt werden, dass Menschen verachtet werden. (…) So lässt sich kein Volk behandeln. Ein zerstückeltes Land. Wie sollen die einen Staat bilden?“

Es lohnt sich, die ganze Hart-aber-fair-Sendung mit dem Titel „Blutige Trümmer in Gaza — wie weit geht unsere Solidarität mit Israel“ einmal anzusehen. Es wird so heftig und unverblümt gestritten, wie es heute in den öffentlich-rechtlichen Medien undenkbar wäre.

Die Einseitigkeit, mit der über den Gazakonflikt heute fast durchgehend berichtet wird, ist verstörend und wird auch im Ausland an vielen Stellen äußerst kritisch und mit Unverständnis wahrgenommen.

Die wirkliche Lage der Menschen in Gaza wird dabei vom Mainstream weitgehend von uns ferngehalten. Man erfährt, dass es an Nahrungsmitteln, Wasser, Elektrizität und Kraftstoff, an Medikamenten, an Verbandsmaterial, an Antibiotika fehlt. Seltener hört man von den Horrorszenarien in den wenigen Krankenhäusern — viele berichten auch nur noch von einem funktionierenden —, in die sich auch Familien geflüchtet haben, die dort in der Nähe der Verletzten und Sterbenden in den Korridoren in Zelten unter entsetzlichen hygienischen Verhältnissen hausen. Seltener hört man von dem ständigen nervtötenden Sirren der Drohnen über den Köpfen, von Massengräbern mit erschreckenden Funden, von zu Hunderten getöteten Helfern, Ärzten und Journalisten, von vor Schmerz schreienden und ausgemergelten Kindern, deren zerfetzte Glieder ohne Narkose amputiert werden müssen. Ein Chirurg spricht darüber, dass es heute in Gaza barmherziger sei, getötet als verletzt zu werden.

Die Frage ist, was Israels wahre Ziele sind. Die Frage ist, ob das hochgerüstete Israel wirklich durch die Hamas derart in seiner Existenz bedroht ist, dass seine Regierung immer wieder zögert, einem Waffenstillstand zuzustimmen, was auch bedeuten würde, die Geiseln endlich im Austausch gegen palästinensische Gefangene nach Hause zu bringen. Ist es doch offensichtlich, dass sich die Hamas einer Atommacht, wie Israel eine ist, nicht effektiv entgegensetzen könnte. Ein Israel, das sich seiner Stärke durchaus bewusst ist — das Parteiprogramm der Likud-Partei von 1977 beginnt mit folgendem Satz:

„The right of the Jewish people to the land of Israel is eternal and indisputable and is linked with the right to security and peace; therefore, Judea and Samaria will not be handed to any foreign administration; between the Sea and the Jordan there will only be Israel sovereignty” (Das Recht des jüdischen Volkes auf das Land Israel ist ewig und unbestritten und ist verbunden mit dem Recht auf Sicherheit und Frieden; aus diesem Grund werden Judäa und Samaria nicht in die Hände einer fremden Regierung gelangen; die Souveränität Israels zwischen dem Mittelmeer und dem Fluss Jordan ist unantastbar).

 

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