Die zukünftige Laborratte der EU

Die Abstimmung am 1. Juni in Polen könnte die Umwandlung der Demokratie in einen ausgehöhlten Mechanismus besiegeln, der nur noch dazu dient, die kulturelle Hegemonie der Macht zu legitimieren. Ein Land am Rande eines Systembruchs, Sinnbild der Europäischen Union

von Loretta Napoleoni für AntiDiplomatico

 

Polens Vororte, Außenbezirke und die Landschaft sind zur perfekten Metapher für eine Nation geworden, die am Rande eines Systembruchs steht. Dabei handelt es sich nicht nur um eine politische Frage: Das soziale Gefüge selbst bröckelt. Gespaltene Familien, zerrissene kollektive Identität, unvereinbare Zukunftsvisionen. Am 1. Juni wählt Polen nicht nur einen Präsidenten: Es entscheidet darüber, ob es zum nächsten Epizentrum des Autoritarismus 2.0 wird, eines postdemokratischen Populismus, der von Angst, Ressentiments und der Illusion nationaler Souveränität lebt.

Auf der einen Seite Rafal Trzaskowski, Bürgermeister von Warschau, proeuropäisch, fortschrittlich, das saubere Gesicht der liberalen Mitte. Auf der anderen Seite Karol Nawrocki, ein reines Produkt der Machtmaschinerie der souveränen Rechten, dem es an politischer Erfahrung mangelt, der aber stark auf die Unterstützung des alten Apparats der PiS, der Partei Recht und Gerechtigkeit, vertraut und den indirekten Segen von Donald Trump genießt. Nur dem Anschein nach ein Außenseiter, in Wirklichkeit ein Symbol der neuen populistischen herrschenden Klasse, die gelernt hat, die Demokratie zu nutzen, um sie von innen heraus auszuhöhlen.

Die Abstimmung erfolgt nach der Rückkehr von Donald Tusk an die Macht, dem ehemaligen europäischen Technokraten, der nach Warschau zurückkehrte, um Polen vor dem populistischen Schiffbruch zu retten. Doch seine Regierung ist fragil und wird durch die Vetos des scheidenden Präsidenten Duda behindert. Es steht enorm viel auf dem Spiel: Nur mit einem verbündeten Präsidenten kann Tusk die illiberalen Reformen der PiS rückgängig machen, die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen, europäische Gelder freigeben und Polens Schlüsselrolle beim Aufbau eines Nachkriegseuropas nach der Pandemie wiederherstellen.

Doch all dies droht auseinanderzufallen. Die Umfragen sprechen eine klare Sprache: Das Land ist zweigeteilt. Die Spannung zwischen einer proeuropäischen Vision und einer nationalistischen Identität hat den Siedepunkt erreicht. Trzaskowski verkörpert die städtische Elite, die europäische Integration und die Bürgerrechte. Nawrocki hingegen bedient sich der Ressentiments der Provinz, der Angst vor Einwanderung, der Ablehnung durch die Eliten und der Werte eines traditionalistischen Katholizismus, die heute als politische Waffe instrumentalisiert werden.

Bei dieser Wahl geht es nicht nur darum, wer Polen führen wird, sondern auch, welches Machtmodell sich in Europa durchsetzen wird. Die europäische Integration wird nicht von außen angegriffen, sondern von innen: von demokratisch gewählten Regierungen, die das Mandat des Volkes ausnutzen, um liberale Institutionen zu zerstören, das Justizsystem zu ihrem Vorteil zu reformieren, die Medien zu kontrollieren und die Freiheiten des Einzelnen einzuschränken.

Polen, einst ein Vorreiter der postsowjetischen Demokratisierung, läuft nun Gefahr, zum Versuchskaninchen für ein neues autoritäres Experiment demokratischen Stils zu werden. Trumps indirekte Unterstützung für Nawrocki ist kein Zufall: Es handelt sich um eine transatlantische Allianz von Populisten mit gemeinsamen strategischen Interessen und Kommunikationsmethoden.

Paradoxerweise geschieht all dies in einer boomenden Wirtschaft: Das Wachstum liegt bei 3,3 %, der Zloty ist stark gestiegen und die Warschauer Börse gehört zu den besten der Welt. Doch hinter den glänzenden Zahlen verbirgt sich eine tiefe Frustration. Unternehmen berichten von mangelnder Infrastruktur, der Zugang zu Energie ist krisenhaft und die versprochenen EU-Gelder sind noch immer nicht eingetroffen. Die Wirtschaftsführer, einst Verbündete von Tusk, sind heute gespalten: Einige blicken mit Interesse auf Mentzen, den jungen rechtsextremen Libertären, der Steuersenkungen und Deregulierung verspricht.

Die wahre Gefahr besteht darin, dass die Illusion entsteht, Autarkie könne Integration ersetzen, und dass ein „starkes und souveränes Polen“ in einer voneinander abhängigen Welt allein bestehen könne.

Was heute in Polen geschieht, ist Teil eines größeren Plans: die Rückkehr der Politik als Spektakel und Kontrollinstanz, die Verwandlung der Demokratie in einen ausgehöhlten Mechanismus, der nur noch dazu dient, die kulturelle Hegemonie der Macht zu legitimieren. Die Abstimmung am 1. Juni wird das Thermometer für dieses Fieber sein.

Polen ist heute das Labor der Zukunft Europas. Die Entscheidungen der Bürger werden unweigerlich zum Lackmustest unserer kollektiven Fähigkeit, der Verführung eines als Demokratie getarnten Autoritarismus zu widerstehen.

 

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