Fehlinterpretation der Entwicklung in den Vereinigten Staaten (½)
Wir sehen, dass die Ankunft von Donald Trump im Weißen Haus die Regeln des internationalen Spiels völlig verändert hat.
Jedoch interpretieren wir sein Handeln oft falsch:
Wir kennen die Sitten und Gebräuche seines Landes nicht und projizieren unsere eigenen politischen Debatten auf ihn.
Wir sind umso verwirrter, als wir in den letzten Jahren mehr oder weniger an der in Washington herrschenden Ideologie festgehalten haben.
Wir haben sie für die amerikanische Doxa gehalten, obwohl sie nur ein Moment ihrer Geschichte war und wir ihre zahlreichen Denkschulen übersehen haben.
Wir waren alle erstaunt, dass Präsident Trump direkt nach seiner
Amtseinführung massenhaft Durchführungsverordnungen unterzeichnete.
Die europäische Presse sah in ihm einen Autokraten, der seine Macht behauptete. Überhaupt nicht! Ein großer Teil dieser Dokumente schränkt die
Macht des Bundesstaates zugunsten der Bundesländer ein.
Fehlinterpretationen dieser Art sind heute Legion zwischen den
Vereinigten Staaten und Europa.
Mit dem Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus werden alle ideologischen, geopolitischen, wirtschaftlichen und sogar militärischen Karten neu gemischt.
Tatsächlich ist zum ersten Mal seit fast zwei Jahrhunderten wieder ein Jackson-Anhänger in den Vereinigten Staaten an der Macht.
Man hatte diese Denkweise (außer in den Western-Filmen) vergessen und ist
nicht mehr in der Lage, sie vorauszusehen.
Dabei ist Trump bereits seit vier Jahren an der Macht, aber damals wurde er von seinen eigenen republikanischen Verbündeten weitgehend gehindert, seine Politik umzusetzen, während die demokratische Presse uns versicherte, er sei geisteskrank oder ein Faschist.
Seltsamerweise informieren uns die Social-Media-Influencer, die seinen Standpunkt verteidigen, nur über seinen ideologischen Kampf gegen den Wokismus,
nie über seine Auffassung der internationalen Beziehungen und noch weniger
über seine politischen Ambitionen.
Dies ist umso seltsamer, als das Team von Donald Trump seit seiner Wahl
am 5. November viele Influencer in der Europäischen Union und
im Vereinigten Königreich umworben hat und auch begonnen hat,
sie gut zu bezahlen.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, diesen Widerspruch zu betrachten.
Entweder will Donald Trump die Europäer bezüglich seiner wahren Absichten
einschläfern, oder er ist der Meinung, dass sie nur ein Projekt auf einmal
verstehen können.
Was uns betrifft, werden wir unsere Arbeit fortsetzen, indem wir die verschiedenen Facetten des Charakters beschreiben, ohne eine davon zu vergessen.
Der Kampf gegen die Woke-Ideologie
Der „Wokismus“ wird im Allgemeinen als Reaktion auf Sklaverei und Rassentrennung dargestellt. Die europäischen Kolonialmächte, die sich der von ihnen begangenen Gräuel bewusst geworden waren, würden nun versuchen sich zu rehabilitieren.
Das ist ganz und gar nicht meine Meinung.
In meinen Augen hat der „Wokismus“ nichts mit diesen Verbrechen zu tun.
Wenn man eine anthropologische Sichtweise einnimmt, muss man erkennen, dass es in allen großen Religionen identische Phänomene gab.
Im Christentum wurde er von Origenius verkörpert, dem Kirchenvater des dritten Jahrhunderts, der sich kastriert hatte, um nicht zu sündigen,
oder in jüngerer Zeit von Johannes Calvin, der berühmt dafür war, dass er in der theokratischen Republik Genf die gleichen Methoden anwandte wie die spanische Inquisition.
Nun, die Vereinigten Staaten entwickelten sich aus der puritanischen Kolonie Plymouth (Neuengland, genauer gesagt Massachusetts).
Sie waren Puritaner, das heißt Calvinisten. Der Lordprotektor Oliver Cromwell hatte sie als Missionäre geschickt, nicht so sehr, um die Indianer zu bekehren, sondern um die Europäer des sehr katholischen Königs von Spanien zu bekehren.
In Cromwells Kolonien mussten Frauen verschleiert sein und das Gebet war Pflicht. Homosexuelle wurden ausgepeitscht usw. Diese Fanatiker sind als “Pilgerväter” bekannt (nicht zu verwechseln mit den “Gründervätern”, die Juristen sind).
Sie werden jedes Jahr am Nationalfeiertag Thanksgiving gefeiert. Sie sind diejenigen, die die Idee importiert haben, dass Politik “rein” sein muss und dass die Statuen der Ketzer zerstört werden müssen.
Seit 2014 bezieht sich der Ausdruck “aufgeweckt“ (auf Englisch woke) auf Menschen,
die sich der sozialen Folgen von Sklaverei und Rassendiskriminierung bewusst sind –
oder sogar der Konvergenz von Kämpfen halber -, der sexuellen Orientierung
und sogar bei Genderfragen.
Diese Bewegung strebt nach “Reinheit” im religiösen Sinne des Wortes und hat sich “bewährten Praktiken” zur Bekämpfung rassistischer, offener oder “systemischer” Diskriminierung verschrieben. Tatsächlich drängt sie auf eine “positive Diskriminierung” zugunsten aller Minderheiten.
Es ist offensichtlich, dass Sklaverei in den Vereinigten Staaten eine Realität war
und dass diese vergangene Realität das heutige Verhalten noch bedingt.
Aber es ist zweifelhaft, ob die Zerstörung dessen, was uns an diese Zeit erinnert, die Probleme unserer Zeit lösen wird, und noch mehr, ob die Bevorzugung schwarzer Kandidaten ermöglichen wird, sich von der Situation ihrer Vorfahren zu befreien.
Jeder nimmt instinktiv wahr, dass die Heilmittel schlimmer sind als die Probleme,
die er angeblich zu bekämpfen vorgibt.
Das dachten zumindest die woken Bewohner von Los Angeles, als ihre Häuser von Bränden verwüstet wurden.
Sie dachten über die Unfähigkeit der dortigen Feuerwehrleute nach, die auf Grund positiver Diskriminierungskriterien und nicht auf Grund ihrer Kompetenz eingestellt wurden.
Diese Bewegung hat in den vergangenen Jahren in den Vereinigten Staaten an Popularität verloren, wie der Ausdruck get woke, go broke! (“Werde wach, am Ende pleite!”) zeigt.
Der Wokismus ist eine moderne Anpassung des Puritanismus der “Pilgerväter”.
Aber die Vereinigten Staaten sind ein zusammengesetztes Land, in dem sich mehrere Kulturen vermischt haben.
Man muss zugeben, dass, so wie die von den Trumpisten absorbierte Republikanische Partei jacksonianisch geworden ist, so auch die von Obama und Biden absorbierte Demokratische Partei woke geworden ist.
Dies führte zu vielen Missverständnissen, da Washington als Ganzes sein traditionelles Verhalten aufgegeben hatte, zu dem es nun aus ideologischen Gründen zurückkehrt.
Während des Präsidentschaftswahlkampfes prangerten zwei junge Influencer den „Wokismus“ ausführlich an.
Die schwarze Journalistin Candace Owens (die jetzt das Ehepaar Macron angreift [1]) nannte Black Lives Matters “eine Gruppe weinerlicher Kleinkinder, die vorgeben, unterdrückt zu werden, um Aufmerksamkeit zu bekommen”.
Der schwule Milo Yiannopoulos (verheiratet mit einem anderen Mann) hat sich durch
seine Parodien des lesbischen Feminismus und der LGTBQIA+-Bewegung hervorgetan. Diese beiden Influencer haben dazu geführt, dass viele Schwarze und Schwule nicht wie die Älteren unter ihnen für die Demokratische Partei, sondern für Donald Trump
gestimmt haben.
In seiner Antrittsrede kündigte Donald Trump das Ende der Affirmative Action-
(positive Diskriminierung) -Politik an und sagte, dass die Bundesregierung nur
noch zwei Geschlechter anerkenne.
Das ist spektakulär, aber es kommt erst zu einem Zeitpunkt, an dem die
große Mehrheit der US-Wähler bereits davon überzeugt ist [2].
“Amerikanischer Exzeptionalismus”
Donald Trump ist ein Befürworter des “amerikanischen Exzeptionalismus” [3];
einer Doktrin, nach der die Vereinigten Staaten “das Licht auf dem Hügel” sind,
von Gott gewollt, um die Welt zu erleuchten.
Diese Lehre, die sich ebenfalls direkt aus dem Beispiel der »Pilgerväter« ableitet, versichert, dass ihr Weg mit dem der alten Hebräer vergleichbar sei.
Sie kamen als “auserwähltes Volk”, weil sie vor dem Pharao
(der britischen Monarchie, die gerade von Lord Cromwell gestürzt worden war) flohen,
das Rote Meer (den Atlantischen Ozean) überquerten und ein gelobtes Land
(Nordamerika) entdeckten.
Jeder der 47 Präsidenten der Vereinigten Staaten, ohne Ausnahme, hat diese Mythologie für sich beansprucht.
Dies ist die Grundlage sowohl für ihre Ablehnung der Prinzipien des Völkerrechts als auch für ihre Unterstützung des Staates Israel.
Aus der Sicht der USA (das hat nichts mit Donald Trump zu tun) wird Washington
niemals Rechenschaft ablegen, und schon gar nicht gegenüber den Vereinten Nationen oder ihren Organisationen.
Zwar haben sie während des Kalten Krieges viele Nazi-Verbrecher recycelt und benutzt, zwar haben sie Koreaner, Vietnamesen, Afghanen, Iraker, Libyer, Palästinenser, Syrer usw. massakriert, aber kein US-Präsident sollte je von einem internationalen Gericht angeklagt werden.
In einem 2013 von der New York Times veröffentlichten Gastbeitrag betonte
der russische Präsident Wladimir Putin, dass es “extrem gefährlich ist,
Menschen zu ermutigen, sich selbst für außergewöhnlich zu halten,
unabhängig von ihrer Motivation” [4].
Diese Lehre führt zu einer Differenz und einer Hierarchie zwischen den Menschen,
wie wenn man das theologische Konzept des “auserwählten Volkes”
auf eine politische Wirklichkeit anwendet.
In seiner gesamten Geschichte hat Washington nie zugestimmt, Ausländern
gegenüber rechenschaftspflichtig zu sein.
Wir ordnen einige seiner jüngsten Entscheidungen fälschlicherweise den gängigen Ideologien zu, obwohl sie in jedem Fall getroffen worden wären.
Zum Beispiel denken wir fälschlicherweise, dass Donald Trump aus dem
Pariser Abkommen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung ausgestiegen sei,
weil er es für dumm hält.
Natürlich glaubt er nicht, dass das IPCC eine Akademie der Wissenschaften ist.
Auf jeden Fall konnten sich die Vereinigten Staaten nie darauf einigen, Abkommen zu unterzeichnen, die sie dem Urteil anderer unterwarfen.
Obama und Biden haben sich ideologisch gegen die Tradition ihres Landes positioniert, Trump hat sich in Übereinstimmung mit seiner Tradition positioniert, die zufällig auch seiner eigenen Ideologie entspricht.
Die Western-Version der Freiheit
Als die Vereinigten Staaten 1776 gegründet wurden, also 13 Jahre vor der
Französischen Revolution, waren die Gründerväter gegen deren Auffassung von Freiheit und Menschenrechten.
Anders als die französischen Anhänger von Voltaire urteilten sie über diese Fragen,
weder von einem individuellen noch von einem kollektiven Standpunkt aus.
Für sie bedeutet Freiheit einfach, zu Hause tun zu können, was man will.
Aus diesem Grund reagieren sie beispielsweise allergisch auf das Prinzip der Sozialversicherungspflicht.
Diese Denkweise ist nicht ohne Nachteile.
Ihre Auffassung der “Menschenrechte” steht also in völligem Widerspruch zu der französischen Auffassung von “Menschen- und Bürgerrechten”.
Aus angelsächsischer Sicht (das bezieht sich auf die britische Tradition)
geht es nur darum, sich vor der Staatsräson zu schützen.
Im Gegensatz dazu ging es aus der Sicht der französischen Revolutionäre weniger darum, nicht in einer Polizeistation gefoltert zu werden, als vielmehr darum, an der Ausarbeitung von Gesetzen mitzuwirken [5].
Die Debatte um die Meinungsfreiheit wird durch die Überlagerung von Lesarten
verzerrt.
Die Biden-Regierung war der Ansicht, dass sie, aus woker Sicht, die Verantwortung habe, die Öffentlichkeit über die Gefahren von COVID zu informieren und sie
vor der Krankheit zu bewahren.
Aus diesem Grund verbot sie jede wissenschaftliche Debatte und zensierte jede abweichende Meinung.
Nach der Tradition der “Gründerväter” sollte sich die Bundesregierung nicht in den Austausch in sozialen Netzwerken einmischen.
Nach Voltaires Tradition hat der Staat das Recht, nicht irgendetwas zu verbieten,
sondern durch Gerichte Nachrichten verbieten zu lassen, die die Internetnutzer
irregeführt und ihrer Gesundheit geschadet hätten
(in diesem Fall sind es die Nachrichten über die universelle Verpflichtung bestimmter Medikamente, die hätten ins Visier genommen werden müssen).
(Fortsetzung folgt…)
Thierry Meyssan
[1] „Nach Großbritannien, Deutschland und Dänemark bereitet das Trump-Team eine Operation für Frankreich vor“, Übersetzung Horst Frohlich , Voltaire Netzwerk, 18. Januar 2025.
[2] Donald Trump versuchte nicht zu leugnen, dass einige wenige Vertreter der menschlichen Spezies weder die chromosomalen Merkmale von Männern noch von Frauen aufweisen. Er griff die Tatsache an, dass die Bundesregierung der Gesellschaft auferlegt habe, sich so zu organisieren, als ob diese Ausnahmen die Regel wären.
[3] Lesen Sie unbedingt den Bericht über die von dem Carr Center for Human Rights Policy organisierte Konferenz: American Exceptionalism and Human Rights, Michael Ignatieff, Princeton University Press (2005).
[4] „A Plea for Caution From Russia“, von Wladimir Putin, New York Times (USA), Voltaire Netzwerk, 12. September 2013.
[5] Der Brite Thomas Paine, der den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ausgelöst hatte, wurde auf dem französischen Nationalkonvent von 1792 zum Abgeordneten des Wahlkreises Pas-de-Calais gewählt. Er weigerte sich, für den Tod des Königs zu stimmen, weil seiner Meinung nach die Aufbürdung der Verantwortung für Ungerechtigkeiten auf einen einzigen Mann, dem Transformationsprozess der Gesellschaft ein Ende setzen würde. Er schrieb ein Buch über die beiden gegensätzlichen Auffassungen von Menschenrechten. Es war das meistgelesene Buch während der Französischen Revolution.